#107 | Meine Fakten gehören mir

Es ist schwer, mit Menschen zu diskutieren, die ihre eigenen Fakten mitbringen. Schwer. Aber nicht unmöglich.

Ausgabe #107 | 20. Januar 2022

Meine Fakten gehören mir

In den oft giftigen Debatten mit Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen fällt immer wieder ein Zitat, das Ihnen sicher auch schon einmal begegnet ist: “Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht das Recht auf seine eigenen Fakten.” (Daniel P. Moynihan, US-Senator*)

Darin steckt viel Wahres. Denn wir erleben zunehmend, wie in vielen politischen Debatten längst belegte Fakten ignoriert oder gar eigene erfunden werden – um die eigene Meinung zu unterfüttern.

Genau das ist Hauptmotiv und -nutzen fast aller Verschwörungstheorien: Unbequeme Wahrheiten zu delegitimieren, indem eine Verschwörung dahinter suggeriert wird. Und es funktioniert. Gleich doppelt.

Zum einen bestärkt es die eigene Blase im selbst konstruierten Weltbild. Und den sachlichen Austausch mit Andersdenkenden sabotiert es von Anfang an. Es macht Diskurs unmöglich, Eskalation dagegen leicht.

Wer also spalten will und demokratischen Diskurs scheut, dem kann ich die Konstruktion einer eigenen Faktenlage nur wärmstens empfehlen. Denn die ist tatsächlich diskursresistent.

Demokratie ist ein Gesellschaftsmodell, das den Diskurs und die unterschiedlichen Meinungen nicht nur aushält, sondern sogar braucht. Wer dem die Grundlage entzieht, destabilisiert. Das ist manchmal nur ein Zeichen der Schwäche, manchmal perfide Strategie. Aber unabhängig von der Motivlage: Es ist gefährlich. Doch wie gehen wir Demokrat*innen damit um? Gibt es eine ultimative Antwort? Eine kluge Gegenstrategie? Einen Ausweg aus dem Dilemma?

Gibt es. Ist aber, wie immer, nicht ganz einfach. Schauen wir uns die vier beliebtesten Reaktionen einmal genauer an:

  1. Was nicht hilft, ist in Meinungsdiskursen die falschen Fakten zu monieren.
  2. Was nicht hilft, ist Meinungsdiskurse zu verweigern, bis die Gegenseite alle Fakten anerkennt.
  3. Was nicht hilft, ist die Gegenseite für schlicht zu dumm zu erklären.
  4. Was nicht hilft, ist mit Verschwörungstheorien zu kontern.

Warum ich das aufzähle? Ganz einfach: Das sind aktuell die vier beliebtesten Strategien im Umgang mit den sogenannten „Querdenkern“.

Sie sind naheliegend, aber offensichtlich nicht nachhaltig erfolgreich. Die Widerspenstigen als „Covidioten“ (Strategie 3) zu bezeichnen, klingt schlagfertig, verschärft aber nur den Ton. Sie zu beschimpfen, weil sie von Rechtsradikalen, Reichsbürgern und Neonazis „unterwandert“ wären (Strategie 4), führt zu problematischen Solidarisierungen – unabhängig wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Diagnose ist. Zu erklären, dass die Zahlen und Fakten der Corona-Skeptiker*innen schräg oder gleich ganz erfunden sind (Strategie 1), beruhigt die Mehrheit der Bevölkerung. Überzeugt aber keine(n) Gegner*in in keinem einzigen Diskurs. Sie deshalb für nicht debattenfähig zu erklären stimmt (Strategie 2), führt aber offensichtlich auch nicht weiter.

All diese Strategien beruhen im Grunde auf der gleichen, gefährlichen Grundannahme: der Kraft der Deduktion. Dahinter steckt die Überzeugung, dass sich aus einer bestimmten Faktenlage logisch zwingende Konsequenzen ergeben würden. Diese Logik ist nachvollziehbar, im Alltag auch oft hilfreich, aber: Sie ist nur begrenzt demokratiekompatibel.

Denn wenn sich aus jeder Faktenlage deduktiv die „richtigen“ Entscheidung ergäben, bräuchten wir keine Wahlen oder Abstimmungen – sondern eine Regierung aus Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen.

Und vor allem: Erweisen sich die Fakten irgendwann als doch nicht so eindeutig, bricht die ganze Argumentationskette in sich zusammen. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns zudem: Was heute noch Fakt ist, kann morgen schon als Unsinn entlarvt werden.

Schließlich war die Idee einer Weltumsegelung ursprünglich einmal blanke Idiotie. Zu den Zeiten, als alle wussten, dass die Erde eine Scheibe war.

Wir können uns ja nicht einmal auf die klügsten Zitate verlassen: Das eingangs erwähnte Zitat ist nämlich eine Fälschung. Deshalb das (*). Es stammt so nicht von dem Politiker, dem es zugeschrieben wurde. Er hatte es nur wiedergegeben, als angebliches Zitat von US Notenbank-Chef Alan Greenspan. Doch auch das war eine Fälschung, beruhend auf einem ebenfalls falsch zugeschriebenen Zitat des US-Verteidigungsministers James R. Schlesinger. Der wiederum hatte es vom Börsenspekulanten Bernard Baruch geklaut – und dabei verfälscht.

Der Wahrheitsgehalt von vermeintlichen Fakten ist also durchaus mit einer gewissen Grundskepsis zu betrachten. Das heißt nicht, dass Fakten Verhandlungssache sind und es keine Wahrheiten gibt. Nur weil wir uns irren können, ist nicht alles möglich.

Fakten sind nicht beliebig, aber die Schlüsse daraus sind von vielen Faktoren abhängig und in einer Demokratie Verhandlungssache. Deshalb wählen wir, deshalb organisieren wir Beteiligungsprozesse.

Und deshalb sollten wir in diesen Prozessen nie der Versuchung erliegen, eine zwingende Verknüpfung von Fakten und Meinungen zu postulieren.

Genau diese zwingende Verknüpfung, gerne garniert mit dem Etikett „alternativlos“ ist es, die Menschen dazu verführt, die Fakten anzuzweifeln, wenn sie mit den daraus deduzierten Maßnahmen nicht einverstanden sind – oder schlicht unter ihnen leiden. Deshalb sind wir gut beraten, Fakten und Schlüsse auch als unterschiedliche, nicht monokausal zusammenhängende Dinge zu betrachten. In Beteiligungsprozessen (und in Debatten) empfiehlt es sich zum Beispiel, zunächst gemeinsam die Fakten zu erarbeiten, dann mögliche Schlüsse zu diskutieren und erst in einer dritten Phase ernsthaft, hart und ggf. auch konfrontativ über die nun zu treffenden Maßnahmen zu streiten.

Das hat viele Vorteile: Fakten, die nicht sofort mit Folgen verkettet werden, sind leichter zu akzeptieren. Widersprechende Fakten (und die gibt es oft genug) können ebenfalls auf den Tisch kommen. Gemeinsam kann festgestellt werden, dass alle benötigten und hilfreichen Fakten nicht vorliegen oder genügend verifiziert sind. Der Grad der Unsicherheit kann so gemeinsam erarbeitet werden, denn auch diesen gibt es öfter, als es uns lieb ist.

Und wenn schon bei der Faktensammlung kein Konsens erzielt werden kann? Auch dann ist es besser, der Grad der Abweichung in der Realitätswahrnehmung wird zu so einem frühen Zeitpunkt erkannt, benannt und ein Konsens über eben diese unterschiedliche Faktenrezeption hergestellt. Erstaunlich oft kann man dennoch eine Debatte führen, im Wissen, dass manche Argumente dann eben nicht für alle gleich „zwingend“ sind.

Oder man kann es nicht. Aber auch dann ist es besser und mit weniger Eskalationspotential verbunden, wenn man es bereits zu einem so frühen Zeitpunkt feststellt.

Ich habe auch schon wunderbare Ergebnisse in Beteiligungsprozessen erlebt, in denen bis zum Ende zwei Fraktionen bestimmte Ausgangsfakten nicht akzeptiert haben. Wir haben einfach ein ganz wesentliches Prinzip aus der in Asien verbreiteten von Konfuzius geprägten Konfliktkultur übernommen: Wir gingen von der Hypothese aus, dass beide Konfliktparteien Recht haben. Das trifft natürlich selten zu, ist aber oft hilfreich für einen wertschätzenden Umgang. Die Faktenerarbeitung vom Meinungsdiskurs zu trennen, funktioniert nicht immer, aber erstaunlich oft. Öfter als unsere vier erwähnten Lieblingsstrategien.

Und vor allem: Es entspricht einem zutiefst demokratischen Verständnis von Diskurs.

Diesen Newsletter als Podcast anhören:

album-art

00:00
Abonnieren
Benachrichtige mich bei

4 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments
Bernd Villwock
22. Januar 2022 8:41

Stark! Das motiviert mich tatsächlich, bei der nächsten Gelegenheit mit einem Impfskeptiker nochmal einen echten Austausch zu versuchen (hatte ich schon aufgegeben). Danke, lieber Jörg Sommer!

Frisch
22. Januar 2022 12:26

Überraschend und erfolgsversprechend.
Danke für Ihren Vorschlag, wie man durch die getrennte Erarbeitung von Fakten und den daraus entstandenen Meinungen einen Raum für respektvolle(re)n Umgang schaffen kann. Ich kann mir gut vorstellen, auch in anderen Zusammenhängen, z. B. bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen in Organisationen, so leichter zu einer gemeinsamen Maßnahmenliste zu kommen, die breit getragen wird.
Danke für die Inspiration, die so logisch erscheint, dass ich mich über mich selbst wundere, warum ich den Weg nicht prinzipiell als erstes probiere, anstatt über die Gültigkeit der Fakten der anderen Partei ins “Streiten für Wahrheit” zu rutschen.

Weitere Ausgaben