#64 | Hast du’s überhaupt verdient?

Demokratie ist kein Buffet, aus dem man nur wählt, was einem schmeckt.

Ausgabe #64 | 25. März 2021

Hast du’s überhaupt verdient?

Heute lade ich Sie zu einer kleinen, turbulenten Zeitreise ein. Wir beginnen im Jahr 1959, bewegen uns dann rasch in die Zukunft, ziehen eine Schleife durch vorchristliche Zeit und nähern uns schließlich in mehreren Stationen wieder unserer Gegenwart.

Unsere Reise beginnt mit Juan Rico. Er erblickt Ende der 50er Jahre das Licht der literarischen Welt. Robert A. Heinlein ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein erfolgreicher amerikanischer Science-Fiction Autor, er sollte später zu einem bekanntesten Schriftsteller dieses Genres der Geschichte werden.

Juans Leben verlegt er in das frühe 21. Jahrhundert, damals noch eine ferne Zukunft. Juan ist zu Beginn des Romans ein gerade mit der Schulausbildung fertiger jugendlicher Heißsporn, der davon träumt, eines Tages in die Politik zu gehen.

Doch im Roman hat die Menschheit die Massendemokratie „überwunden“, die durch verantwortungslose Populist*innen und passive Bürger*innen zugrunde gerichtet wurde. In Heinleins Zukunft gibt es das aktive und passive Wahlrecht nur für Personen, die eine mindestens zweijährige Dienstzeit beim Militär abgeleistet haben.

Also landet Juan Rico bei der Infanterie, mitten in einem epischen galaktischen Krieg gegen Außerirdische, käferähnliche Wesen – und eine Ikone der Military Science-Fiction ist geboren. „Starship Troopers“ heißt der Roman, der ungeachtet seiner vor einigen Jahren völlig vermurksten Trash-Verfilmung auch heute noch lesenswert ist.

Alles nur Science-Fiction? Nicht wirklich.

Die Idee, das Recht zur politischen Teilhabe von Leistung abhängig zu machen, ist keine Erfindung von Romanautor*innen. Tatsächlich war diese Vorstellung über Jahrhunderte prägend für demokratische Theorie – und Praxis.

Selbst die attische Demokratie lange vor Christi Geburt schloss nicht nur Frauen und Sklaven von der Teilhabe aus – sie machte auch bei den Männern noch einmal gewaltige Unterschiede. Frei wählbar zu den wichtigsten Ämtern waren lange nur die besonders wohlhabenden pentakosiomedimnoi, darunter gab es mehrere Stufen der Teilhabemöglichkeit – definiert nach dem jeweiligen Ernteertrag – und der militärischen Leistung.

Erst später und aufgrund von Erosionserfahrungen des politischen Systems entstand eine weitere, heute weitgehend unbekannte politische Teilhabepflicht: Das Stasisgesetz verpflichtete jeden Bürger, bei massivem Streit in der Polis für eine Seite Partei zu ergreifen. Eine interessante Regelung, die an die Frage der Wahlpflicht anknüpft, die wir in der vergangenen Woche angesprochen haben – und die gerade intensiv im Debattenforum diskutiert wird.

Dieses abgestufte, so genannte „Zensuswahlrecht“ prägte über 2.000 Jahre zahlreiche mehr oder weniger demokratische Systeme.

Nach Überwindung der Monarchie in der französischen Revolution wurde es auch dort eingeführt. Frankreich wurde in den folgenden Jahren führend darin, das Wahlrecht an dem Besitz beziehungsweise an der Steuerleistung auszurichten.

Aber auch in der Schweiz, in Russland und sogar in den USA gab es solche Konstruktionen. In Preußen wurde ein solches System lange als sogenanntes „Dreiklassenwahlrecht“ perfektioniert und erst in der Weimarer Republik abgeschafft.

Historisch ist die Idee, das Wahlrecht könnte jedem Menschen ungeachtet von Hautfarbe, Geschlecht und „Leistung“ zustehen, eher neu – und gar nicht so absolut, wie wir es heute wahrnehmen.

Politische Teilhabe nicht als absolutes Recht, sondern als Teil eines „Deals“ mit Gegenleistung prägt auch – gewollt oder ungewollt eine relativ neue Säule unserer vielfältigen Demokratie: Neben direktdemokratischen (Volksentscheide etc.) und repräsentativen (Wahlen) Prozessen bauen wir aktuell die deliberative Säule (Bürgerbeteiligung) deutlich aus.

Genau hier aber bedarf eine tatsächliche Wirksamkeit in hohem Maße einer Gegenleistung in Form von Bereitschaft, viel Zeit einzubringen. So ist der komplexe und extrem partizipative Prozess der Suche nach einem atomaren Endlager noch ganz Anfang. Er wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern – doch schon jetzt ist eine maximal mögliche Mitwirkung in den entsprechenden koordinierenden Gremien zwar möglich, bedarf aber unzähliger Arbeitsstunden – und das jede Woche. Geleistet wird dies entweder von Menschen, die nicht mehr aktiv im Berufsleben stehen – oder von Dritten (NGOs, Behörden, Verbänden), die dafür bezahlt werden.

Ähnliches gilt für viele Beteiligungsprozesse. Je umfangreicher die Beteiligung, desto höher ist oft der Ressourceneinsatz für die Beteiligten. Wer das nicht aufbringen kann oder will, ist oft weniger wirksam.

Politische Teilhabe in Abhängigkeit von „Leistung“ ist nicht nur Science-Fiction – oder Frühgeschichte. Sie ist real.

Aber ist das ethisch überhaupt kritikwürdig? Kann nicht das Wahlrecht wieder an einen wie auch immer zu gestaltenden „Dienst an der Gesellschaft“ gekoppelt werden? Ist das eine geeignete Antwort auf das Phänomen, dass es immer weniger Streiter*innen für Demokratie und immer mehr Akteure mit Partikularinteressen gibt?

Ist eine Demokratie, in der nur noch aktiv wird, wer ein ganz spezielles, subjektives Vorteilsinteresse hat, nicht hoch gefährdet? Merken wir das nicht aktuell besonders in der Pandemie, in der jede gesellschaftliche Gruppe immer nur mit dem Finger auf andere zu zeigen scheint?

Müssen wir nicht nur an mehr Gemeinwohlorientierung appellieren, sondern sie konkret einfordern? Und sollten wir nicht eher die Voraussetzungen für ein Wahlrecht diskutieren als eine Wahlpflicht?

Wird in einigen Jahren für Wahlen akzeptiert sein, was in der Bürgerbeteiligung oft Praxis ist: Wer sich nicht aktiv anstrengt, ist nicht dabei?

Oder gibt es andere, bessere Wege, um unsere Demokratie nicht weiter zu einer Buffet-Demokratie werden zu lassen, in der sich jede*r nur nimmt, wozu er oder sie gerade Lust hat? Ist der richtige Weg eher die Bereitstellung von mehr, niederschwelligeren, spontanen Beteiligungsangeboten? Geht es eher darum, die Lust zu wecken und den Sinn zu erfahren – als an die Pflicht zu denken?

Auch diese Frage wollen wir wieder miteinander diskutieren. Hier im Debattenforum. Ich freue ich auf Ihre Ideen!

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