#217 | Die unsportliche Demokratie

Sport und Demokratie haben in Deutschland eine lange gemeinsame Geschichte. Aktuell könnten wir eine sportlichere Demokratie gut vertragen.

Ausgabe #217 | 29. Februar 2024

Die unsportliche Demokratie

Friedrich Ludwig Jahn war im 19. Jahrhundert ein Pionier der Sportgeschichte.

Der bis heute als Turnvater Jahn verehrte Berliner Pädagoge wollte damit eigentlich Charakter und Moral junger preußischer Männer stärken.

Nach den schlechten Erfahrungen in den Kriegen gegen Napoleon sollte die Jugend kriegstauglicher werden. Und disziplinierter.

Turnvater Jahn glaubte, im besten Sinne Preußens zu handeln. Um so entsetzter war er, als man ihm von offizieller Seite mitteilte, der König betrachte das Turnen als staatsgefährdende Angelegenheit.

Alle Turnvereine in Preußen wurden noch im selben Monat verboten.

Dahinter standen politische Gründe. Denn die Turner turnten nicht nur. Wenn sie nicht turnten, führten sie politische Debatten.

Die Turnbewegung wurde im Lauf der Jahre, neben den studentischen Burschenschaften, zur Keimzelle der liberalen deutschen Nationalbewegung von 1848, die erstmals die Demokratie in Deutschland auf die Tagesordnung setzte.

Turnvater Jahn landete letztlich sogar im Gefängnis. Erst über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod konnte sich die Demokratie in Deutschland erstmals durchsetzen.

Seine Majestät ließ damals rund 100 Sportvereine verbieten. Heute gibt es in Deutschland ca. 90.000 davon. Mit 27 Millionen Mitgliedern.

Was auch blieb, ist die Sorge des Staates vor politischer Betätigung.

Tatsächlich schließt das Gemeinnützigkeitsrecht bei Sport- und Kulturvereinen eine politische Tätigkeit explizit aus. Vereine, die sich politisch betätigen, können die Gemeinnützigkeit verlieren.

In Ludwigsburg erwischte es ein Jugendzentrum – weil es „einseitige“ Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus anbieten würde. Die globalisierungskritische Vereinigung Attac hatte es mit einer ähnlichen Begründung schon zuvor getroffen.

Das sind eher seltene Fälle, aber sie sind Beispiele für ein Sportverständnis, das in Deutschland bis heute dominiert:

Sport hat unpolitisch zu sein.

Viele Sportler*innen sehen das anders. Das Gemeinnützigkeitsrecht nicht. Und auch nicht die Mehrheit der politisch Verantwortlichen.

Doch das ist gefährlich.

Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie unter Druck gerät, ist „unpolitisch“ etwas, was sich die Mitte der Gesellschaft kaum leisten kann.

Wenn am Arbeitsplatz „Keine Politik“ gilt, wenn in der Schule „Keine Politik“ gilt, wenn im Sportverein „Keine Politik“ gilt – dann bleiben wenig Spielräume übrig.

Doch Demokratie ist kein Freizeitvergnügen.

Sie ist das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Das kann sie nicht, wenn der Einsatz für Demokratie und gegen autoritäre Entwicklungen eher als Risiko denn als Aufgabe betrachtet wird.

Unpolitischer Sport ist nicht undemokratischer Sport. Aber ein Sport, der seine Chancen zur Stärkung der Demokratie nicht nutzt.

In der Geschichte war das immer wieder anders.

Die Demokratiebewegung von 1848 wäre ohne den Sport so nicht vorstellbar gewesen. Auch bei der Etablierung der Weimarer Republik spielten Arbeitersportvereine eine gewichtige Rolle. Und in der „Eisernen Front“, dem letzten Aufgebot der Demokratie gegen den Faschismus, waren Hunderttausende von Sportlern und Tausende Sportvereine aktiv.

Sportvereine haben Demokratiegeschichte geschrieben. Immer wieder. Um so erstaunlicher ist, wie wenig klare Statements gegen den aktuellen Rechtsextremismus wir aktuell aus dem Sport, insbesondere dem Profisport, hören.

Es gibt diese Stimmen. Der Freiburger Fußballtrainer Christian Streich ist so eine.

Aber es sind wenige.

Dabei hat der deutsche Breitensport eine großartige Chance. Keine Organisation erreicht annähernd so viele Menschen wie die Sportvereine.

Demokratie dort zum Thema zu machen, zu diskutieren, gemeinsame Aktivitäten oder zumindest Positionen zu entwickeln, ist möglich. Einige Vereine zeigen das.

Keiner davon hat bislang die Gemeinnützigkeit verloren. Auch wenn eine entsprechende Überarbeitung des Gemeinnützigkeitsrechts dringend ansteht – und von den Spitzenverbänden offensiv eingefordert werden sollte. Bereits heute ist mehr möglich, als passiert.

Nicht nur möglich, auch nötig.

Turnvater Jahn wollte die jungen Männer ertüchtigen. Seine Nachfolger haben die Demokratie ertüchtigt. Immer wieder. Genau diese Ertüchtigung braucht die Demokratie auch heute wieder.

Unsere Demokratie muss sportlicher werden.

Und wer könnte besser daran arbeiten als unser Sport?

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