#152 | Fatale Fakten

Macht es Sinn, ernsthafte Debatten führen, wenn sie die Beteiligten nicht einmal auf eine gemeinsame Faktenlage einigen könnten?

Ausgabe #152 | 1. Dezember 2022

Fatale Fakten

Oh wie hilfreich wäre es in politischen Debatten, wenn die Beteiligten sich wenigstens auf eine gemeinsame Faktenlage einigen könnten.

Doch leider erleben wir einen gefährlichen Trend: Fake News manipulieren, dominieren und ruinieren den öffentlichen Diskurs.

Immer mehr und immer öfter werden die passenden Fakten zu einer Meinung schlicht erfunden.

Und tatsächlich haben wir hier schon das erste Beispiel für einen fatalen Irrtum. Denn Fake News sind alles andere als eine moderne Erscheinung.

Sie sind so alt wie die Gesellschaft.

Schon der in unserem Land mit zahllosen Denkmälern bis heute verehrte Reichskanzler Otto von Bismarck trieb das deutsche Kaiserreich 1870 so in den Krieg mit Frankreich.

Er manipulierte den Text der sogenannten Emser Depesche. Darin ging es eigentlich um Positionen der französischen Regierung zur spanischen Erbfolge. Dank Bismarck wurde daraus ein aggressives Ultimatum der Franzosen an den deutschen Kaiser – und der Boden für einen neuen Krieg bereitet.

Fake News als Kriegsauslöser kennen wir. Der von den Nazis gefakte Überfall Polens auf den Sender Gleiwitz war der Auftakt zum zweiten Weltkrieg.

Die USA begründeten ihren Einstieg in den Vietnamkrieg mit dem ebenfalls erfundenen Tonkin-Zwischenfall und auch die angeblichen irakischen Chemiewaffen – Begründung für den US-Überfall auf den Irak – wurden nie gefunden.

Doch nicht nur zu Kriegsbeginn wurde und wird gelogen, zur Not geschah das auch am anderen Ende bewaffneter Auseinandersetzungen.

Pharao Ramses II. zog im Jahr 1274 v. Chr. gegen die Hethiter in den Krieg. Er erlitt eine schmähliche Niederlage. Nach Ägypten zurückgekehrt, verkündete der Pharao kurzerhand dennoch seinen Sieg und ließ seine Sicht der Schlacht sogar in einem bis heute überlieferten Relief festhalten.

Selbst die heutige Macht des Vatikans in der katholischen Welt basiert auf einem Fake. Kaiser Konstantin hatte demnach dem römischen Papst die Westhälfte des Römischen Reiches übertragen, als er sich nach Konstantinopel zurückzog. Tatsächlich wurde diese sogenannte Konstantinische Schenkung wohl erst im 8. Jahrhundert schlampig zusammenbastelt.

Falsche – und oft fatale Fakten – ziehen sich durch die menschliche Geschichte. Allein eine Aufzählung der Fälle mit erheblichen Auswirkungen würde Hunderte von Seiten in Anspruch nehmen.

In den USA gab es im 19. Jahrhundert sogar Zeitungen, die praktisch ausschließlich aus Fake News bestanden. Auch in „seriösen“ Magazinen vermischten sich Wahrheit und Lüge auf undurchschaubare Art und Weise.

Tatsächlich wurde 1851 die noch heute erscheinende New York Times explizit mit dem Ziel neu lanciert, von nun an nur über überprüfbare Fakten zu berichten.

Wir sehen also: Fake News sind weder neu, noch ein Kollateralschaden des Internets.

Warum ist das wichtig?

Weil wir in den aktuellen Debatten, ob in den Medien, auf den Straßen, am Stammtisch oder in Beteiligungsangeboten immer wieder Konflikte erleben, die unlösbar erscheinen.

Eben weil ein Teil der Beteiligten mit falschen Fakten operiert. Oder mit korrekten Fakten, die nicht nachprüfbar sind. Oder nicht glaubhaft. Oder nicht relevant.

Tatsächlich sind nicht nur falsche Fakten fatal. Oft ist es auch der Versuch, eine gemeinsame Faktenbasis als Voraussetzung für eine Debatte zu sehen.

„Jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung – aber nicht auf seine eigenen Fakten.“

Den Spruch haben wir alle schon gehört oder gelesen. Und genickt. Aber auch wenn er unsere Seele streichelt. Der Satz stimmt so nicht.

In einer freien Gesellschaft, auch in einer aufgeklärten Gesellschaft, hat selbstverständlich jede und jeder das Recht zu glauben, was er oder sie will. Wie sonst sollten Christen und Atheisten, Juden und Muslime, Anhänger anderer Religionen, UFO-Gläubige und Flatearther zusammenleben können?

Tatsächlich ist die Erwartung, gerade in Konflikten zunächst eine gemeinsame Faktenbasis zu schaffen, verständlich, aber aussichtslos.

Immer wieder begegne ich diesem Ansatz bei konfliktbasierten Beteiligungsprozessen. Die Beteiligenden haben oft den Anspruch, zunächst einmal über einen von ihnen definierten Input, alle „auf den gleichen Sachstand“ zu bringen.

In der Praxis entwickelt sich die Sache dann oft ähnlich: Wer ausschließlich über Fakten diskutieren will …

… diskutiert letztlich über Behauptungen.

Das hat viele Gründe: Beteiligende sind in der Regel auf Basis von Fakten zu einem Ergebnis oder einem Vorhaben gekommen. Genau diese Fakten präsentieren sie dann in einem Beteiligungsprozess.

Für kritische Beteiligte sind diese aber oft schwer zu verstehen, die Auswahl nicht nachprüfbar und aus ihrer Sicht ohnehin interessengeleitet – also subjektiv erstmal „nur“ Behauptungen. In kritischen Köpfen daraus akzeptierte Fakten zu machen – das funktioniert so gut wie nie.

Tatsächlich ist die Faktenfokussierung in Beteiligungsprozessen absolut verständlich – und dennoch oft fatal.

Weil sie ein Wissensgefälle postuliert, weil sie die Rollen „Überzeuger“ und „zu Überzeugende“ zuschreibt.

Weil sie letztlich Vertrauen erwartet, nicht schafft.

Und weil in einer Welt, in der das Wissen sich Tag für Tag in atemberaubendem Tempo vermehrt, der Umgang mit Nichtwissen die kritische Frage ist.

Auch wenn es hart klingt für Stadtplaner, Ingenieure, Verwaltungsprofis, Physiker und andere Wissenschaftler: Faktenbasierte Beteiligung von Laien ist tendenziell eine Illusion.

Und auch nicht wirklich die Aufgabe von deliberativer Bürgerbeteiligung.

Beteiligung soll keine wissenschaftliche Abwägung ersetzen. Sie soll weitere Aspekte und neue Perspektiven in Entscheidungsprozesse einbringen.

Es geht um Gemeinwohl- und Partikularinteressen, um Fragen der Ethik, um Abwägungen, Konsense, Kompromisse, Tolerierbarkeit und um Vor- und Nachteile für bestimmte Gruppen.

Sie müssen immer zwischen Menschen ausgehandelt werden, die nicht über dieselben Fakten verfügen und nicht zwingend dieselben Fakten akzeptieren.

Zwei Dinge sollten uns in solchen Prozessen, bei der Planung und bei der Bewertung ihrer Ergebnisse deshalb stets bewusst sein:

Gemeinsame Fakten sind hilfreich. Sie aber zur Bedingung für den Diskurs zu machen, ist weder hilfreich noch nötig – sondern oft fatal.

Das macht Debatten nicht leichter.

Aber es macht sie überhaupt erst führbar.

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