#163 | Folgenlos

Demokratie ist kein Zufall. Und die Entwicklung von Demokrat*innen sollten wir auch nicht dem Zufall überlassen.

Ausgabe #163 | 16. Februar 2023

Folgenlos

Zufall und Folgen. Zwei Dinge, die sehr viel mit Demokratie zu tun haben. Und mit Beteiligung. Und deren Wirkung gerne mal überschätzt wird. Oder unterschätzt.

Der Zufall zum Beispiel. Auf ihn hoffen wir Menschen immer dann, wenn wir in einer unangenehmen Situation stecken, für die wir keine Lösung haben.

Dann muss uns der Zufall zu Hilfe kommen.

In Hollywood-Filmen klappt das immer. Aber die haben auch ein Drehbuch.

Mag sein, dass unsere hoffnungsvollen Erwartungen auf den Zufall etwas damit zu tun haben, dass der durchschnittliche Erwachsene rund 10.000 davon gesehen hat.

Der Zufall entwickelt jedenfalls aktuell auch eine gewisse Attraktivität in der politischen Teilhabe. „Zufallsbürger“ sollen vermehrt beteiligt werden, losbasierte Bürgerräte sind im Trend. Einige wollen sogar Parlamente auslosen.

Der Zufall soll es wieder einmal richten – oder je nach Sichtweise „die Demokratie beleben.“

Wussten Sie, dass der Zufall tatsächlich in unserer repräsentativen Demokratie bereits vorgesehen ist?

Genau für jene Situationen, in denen wir keine Lösung haben. Das Los kann sogar über die Besetzung von Parlamenten entscheiden.

Gerade jetzt, während Sie diesen Text lesen, könnte das in Berlin geschehen.

Dort wurde die Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholt, weil beim letzten Mal zu viel schiefgelaufen war. Diesmal funktionierte es besser. Wenn auch nicht perfekt. In Lichtenberg wurden versehentlich 466 Briefwahlumschläge bei der Auszählung vergessen.

Die Nachzählung führte dann zu einer seltsamen Situation: Der vorher führende Direktkandidat der CDU hatte plötzlich genauso viel Stimmen wie die Kandidatin der Linken.

Und in diesem Fall sieht das Berliner Wahlrecht tatsächlich vor: Es wird gelost. Durch den zuständigen Wahlleiter.

Das Los entscheidet.

Und wenn es für die Kandidatin der Linken entscheidet, fliegt nicht nur der CDU-Kandidat raus, sondern aufgrund der Überhangmandate auch jemand von den Grünen und der SPD.

Kurzzeitig sah es sogar aus, als könnte das die Kräfteverhältnisse von Grünen und SPD im Abgeordnetenhaus verändern.

Dieser Vorfall zeigt, welch Risiken und Nebenwirkungen losbasierte Gremienbesetzungen potentiell haben können.

Er zeigt aber vor allem etwas anderes: Entscheidungen in einer Demokratie bleiben nicht folgenlos.

Hätte sich nur eine Wählerin in Lichtenberg anders entschieden, wäre ein Wähler mehr oder weniger wählen gegangen, hätte dies die politische Wirksamkeit von gleich vier (Beinahe-)Abgeordneten fundamental verändert – und möglicherweise noch mehr.

Fast 300.000 Menschen, die noch bei der letzten Wahl ihre Stimme abgegeben haben, haben diesmal nicht gewählt. Und das hatte Folgen, mehr als nur das Losverfahren in Lichtenberg.

Während wir Menschen also dazu neigen, den Zufall als Heilsbringer zu überhöhen, unterschätzen wir häufig die Folgen politischen Handelns – oder Nichthandelns.

Warum? Weil wir es nicht gelernt haben.

Wir haben im Laufe unseres Lebens zwar zigtausende Filme gesehen, aber häufig nur sehr wenig bis keine Wirksamkeit von demokratischem Handeln erfahren.

Das gilt ganz besonders für junge Menschen – das Thema, mit dem wir uns in den vergangenen Ausgaben von demokratie.plus beschäftigt haben.

Das Handeln Folgen hat, ist eine wichtige Lebenserfahrung. Manche Pädagog*innen kritisieren, dass heutige Kinder sehr viel weniger Folgen ihres Handelns erleben als die Generationen vor ihr. Das „Ausräumen“ von Handlungsfolgen haben manche Helikoptereltern zur Perfektion entwickelt. Doch dieses Thema ist größer als unser Newsletter.

Sicher ist aber eines: Ob Elternhaus, Schule oder Arbeitswelt, Folgen des eigenen demokratischen Handelns erleben nur wenige junge Menschen.

Schon gar keine positiven, bestärkenden Folgen.

Die einen erfahren kaum demokratische Selbstwirksamkeitsangebote. Andere streiken freitags oder kleben sich auf Straßen fest. Sie erfahren Folgen. Überwiegend negative.

Beiden Gruppen bietet unsere Demokratie keine positiven Wirksamkeitserfahrungen an. Oder sie macht Angebote, die nicht verfangen.

Das hat, wir haben es in der vergangenen Woche gesehen, vor allem einen Grund: Wer noch nie positive Selbstwirksamkeitserfahrung hatte, weiß nicht, was er verpasst.

Wer keine positiven Folgen von demokratischer Mitgestaltung erleben durfte, sieht keinen Grund, sich darauf einzulassen. Denn diese Prozesse sind anstrengend, mühsam, frustrationsreich.

Die entscheidende Frage lautet also: Wie können Selbstwirksamkeitserfahrungen organisiert werden – für Menschen, die nicht wissen, wie sehr sie sie brauchen?

Indem wir sie – und hier ist es zunächst wirklich angebracht – so wenig mühsam, anstrengend und frustrationsreich wie möglich gestalten.

Lustvoll also. Spielerisch. Interaktiv – denn bei jungen Menschen dreht sich nicht alles, aber vieles um die Interaktion mit Gleichaltrigen. Es darf nicht nur Spaß machen. Es muss sogar Spaß machen. Entsprechende Formate gibt es reichlich.

Doch das alleine reicht nicht. Denn entscheidend ist eine Verknüpfung, die allzu oft vergessen wird:

Die Sache muss Folgen haben. Konkrete Folgen im realen Leben der Beteiligten. Erst durch Folgen wird aus Erfahrung Selbstwirksamkeits-erfahrung.

Ein Nachmittag, an dem ausgewählte Schüler*innen Parlament spielen, ohne dass dies irgendetwas in ihrem persönlichen Leben verändert, ist kaum breite Demokratieförderung, sondern eher Trainingscamp für zukünftige politische Eliten.

Ganz ähnlich wie „Jugendwahlen“, bei denen Schüler*innen im Umfeld von Bundestagswahlen ihre Stimme abgeben dürfen. Die werden dann gezählt. Und veröffentlicht. Und fertig. Folgenlos.

Wer jungen Menschen die Chance geben will, nicht nur demokratiefähig zu werden, sondern auch demokratiewillig, der muss sie demokratiewirksam machen.

Spannende, spielerische Formate – mit echten Folgen. Das geht auch bei Planspielen, wie zum Beispiel die Initiative PIMP YOUR TOWN zeigt.

Je mehr Selbstwirksamkeit dabei entsteht, desto niedriger ist die Schwelle für weiteres demokratisches Engagement, ob als Wählende, Gewählte, Beteiligte oder Aktive.

Demokratie ist kein Zufall. Und die Entwicklung von Demokrat*innen sollten wir auch nicht dem Zufall überlassen.

Denn das eine gibt es nicht ohne das andere …

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