#102 | Hass als Geschäftsmodell?

Hass und Streit ist das Geschäftsmodell von Facebook & Co. Doch das stimmt nicht. Tatsächlich ist Hass nur Kollateralschaden. Und Streit eine ganz andere Sache.

Ausgabe #102 | 16. Dezember 2021

Hass als Geschäftsmodell?

So ganz kann sich kaum eine*r von uns den sozialen Medien entziehen. Mir gelingt es auch nicht. Und ich möchte es auch gar nicht. Warum? Das erkläre ich Ihnen gerne.

Zwar habe ich schon vor einigen Jahren relativ erfolgreich einen kalten Facebook-Entzug praktiziert. Auf Twitter habe ich mich gar nicht erst eingelassen. Aber tatsächlich bin ich auf LinkedIn relativ aktiv.

Als Netzwerk, das sich eher im Bereich des Business verortet, hatte es bislang den Vorteil, dass Diskussionen dort halbwegs freundlich abliefen. Aber auch das hat sich in jüngster Zeit relativiert.

Seit einiger Zeit wird auch dort gestritten. Sicher etwas geschliffener in den Formulierungen. Wer dort schreibt, muss stets damit rechnen, dass die Chefin oder die Personalabteilung mitliest. Oder noch schlimmer: Dass ein zukünftiger potenzieller Arbeitgeber dort recherchiert. Diese Sorge hat erstaunlich disziplinierende Wirkung.

Zudem gibt es dort einen relativ marktliberalen Grundkonsens. Für ein Business-Netzwerk nicht ganz überraschend. Entsprechend sind die größten Auffälligkeiten und Ausfälligkeiten regelmäßig dann zu beobachten, wenn es um die jungen Menschen von Fridays4Future geht. Die sind auf jener Plattform faktisch nur in einer Version existent: Als Feindbild.

Und wie in jeder gut strukturierten sozialen Blase schaukeln sich die Äußerungen schnell auf, bis hin zu dürftig kaschierten Gewaltfantasien.

Latent droht dieses Schicksal auf LinkedIn auch Grünen und Umweltschützer*innen. Auch da eskalieren Debatten schnell, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Der entscheidende Unterschied ist: Diese Gruppe ist dort ebenfalls präsent.

Und sie argumentiert. Da die Argumente, zum Beispiel in Sachen Klimaschutz, ja nicht ganz von der Hand zu weisen sind, werden die Ansichten dort zunehmend differenzierter.

Im Grunde kann man dort live verfolgen, wie sich neue gesellschaftliche Prioritäten Stück für Stück, zäh, konfliktgetrieben, schmerzhaft aber eben doch immer mehr durchsetzen.

Im Grunde ein wunderbares Reallabor für Soziolog*innen. Wir erleben dort praktisch, wie wichtig es ist, dass unterschiedliche Haltungen, Interessen, Kulturen und Prägungen aufeinanderprallen. Und dass sie das auch dürfen.

Von Vorteil sind sicher auch die erwähnten disziplinierend wirkenden Faktoren der sozialen Kontrolle. Das unterscheidet sie fundamental zum Beispiel von Facebook. Anonyme Konten existieren bei LinkedIn auch, spielen aber in den Debatten keine Rolle. Immer wieder höre ich in Debatten, das Geschäftsmodell von Facebook sei Hass. Das ist völlig falsch.

Das Geschäftsmodell von Facebook ist Sucht. Sucht nach Selbstbestätigung. Dafür hat Facebook gesorgt, indem es uns in eine Soziale Blase packt. Dort kommunizieren wir überwiegend mit Menschen, die unsere Meinungen und Werte teilen. Das bestärkt uns.

Und wenn wir dann – zufällig oder absichtlich – auf Menschen mit anderen, von anderen ebenfalls bestätigten, Meinungen prallen – dann entsteht Hass. Hass ist ein Kollateralschaden, den Facebook in Kauf nimmt. Er ist nicht das Geschäftsmodell.

Die Folgen sind genau so fatal. Denn die Algorithmen von Facebook verhindern genau das, was jene in LinkedIn ermöglichen: Echten Streit mit echten Menschen um echte Zukunftsthemen.

Denn anders als immer wieder in bedauernden Medienberichten zu lesen, ist es nicht der Streit, der eine Demokratie schwächt – es ist dessen Abwesenheit. Eine Demokratie die streiten kann, lebt. Und nur eine Demokratie, die lebt, bleibt eine Demokratie.

Es sind nicht in erster Linie die Wahlen, die Parlamente oder die Politiker*innen, die eine Demokratie stärken oder schwächen – es sind gesellschaftliche Debatten – und zwar genau jene, die Veränderungen fordern, fördern und gestalten.

Wenn immer mehr Menschen Beteiligung fordern, wenn immer mehr Menschen kritisch hinterfragen, was Regierende entscheiden, dann ist das lästig. Und es hält auf. Aber es ist eine Chance für eine Stärkung unserer Demokratie. Und die hat es nötig.

Denn unsere Gesellschaft wird nicht nur immer diverser, sondern sie steht auch vor einer Transformation, deren Umfang uns heute noch nicht einmal in Ansätzen bewusst ist. Wenn wir gerade, zum Beispiel auf LinkedIn, sehen, wie schmerzhaft schon der Streit über verhältnismäßig zarte und leicht verdauliche Veränderungen ist, dann ahnen wir, was uns noch bevorsteht. Wir wissen nicht genau, wo die Reise hingeht. Wenn wir diese Reise aber als demokratische Gesellschaft bestehen wollen, dann lautet eine wesentliche Erkenntnis:

Es ist höchste Zeit, das Streiten zu lernen.

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1 Kommentar
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Günther Hohn
16. Dezember 2021 16:53

Sehr geehrter Herr Sommer,
soziale Netzwerke haben bestimmt ein großes Suchtpotential , könnten aber auch zum Erlernen von Partizipation genutzt werden. Die entscheide Frage, wie möchte eine Gesellschaft in Zukunft
leben mit welchen Zielen und Werten, könnte durch neugierig machende Formate über die Sozialen Netzwerke in die breite Öffentlichkeit getragen werden. Wer die Demokratie mit Zukunft und mehr Partizipation erlernen möchte könnte über einen spannenden, informativen und transparenten Weg begleitet werden, der ein gestärktes Gefühl für die Gemeinschaft zum Ziel hat.
Eine Bündelung sämtlicher außerparlamentarischen demokratischen Kräfte könnten gemeinsam Möglichkeiten erarbeiten. Es muß einiges verlernt werden um der Demokratie mit Zukunft eine Chance zu geben.

Frohe Weihnachten und alles Gute für 2022

Günther Hohn

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