#157 | Winzig. Aber wichtig.

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg zum Propheten. Das funktioniert auch bei Rathäusern.

Ausgabe #157 | 5. Januar 2023

Winzig. Aber wichtig.

Kennen Sie das Konzept der tiny houses?

Tiny houses, also winzige Häuser, sind aktuell besonders hip. Es gibt eine wachsende Community von Anhänger*innen, ja sogar ein globales tiny house movement.

Dem Amerikaner Jay Shafer wird nachgesagt, diese Bewegung maßgeblich initiiert zu haben. Er zog 1999 in sein selbst gebautes Mini-Holzhaus und fand in der Folge viele Nachahmer*innen und Anhänger*innen.

Wie viele Innovationen war auch das tiny house eher eine Wieder- als eine Neuentdeckung. In winzigen Häusern leben Menschen, seit sie Häuser bauen.

In den USA residierten zur Zeit der Besiedlung des Westens die wenigsten Farmer in den prächtigen Landhäusern, die wir aus den Hollywood-Filmen kennen. Viel öfter teilten sich Eltern, Kinder und das Nutzvieh eine winzige, fensterlose Holzhütte.

Auch das tiny house Konzept hat sich im Laufe der Jahre erheblich verändert. Jay Shafer ging es darum, zu zeigen, dass nachhaltige Lebensführung beim Wohnen anfängt, „mit Weniger leben“ war sein Motto.

In den Anfangsjahren der Bewegung stand die Nachhaltigkeit tatsächlich im Vordergrund. Im Zuge der Immobilien- und Finanzkrise 2007 wurden tiny houses in den USA dann plötzlich aus der Not geborene Lösungen für Zwangsgeräumte.

Zwischenzeitlich wandelt sich das Konzept zum dritten Mal: Heute kennen viele tiny houses auf Rädern – als kuschelige Wohnwägen im Blockhaus-Format für den Urlaubs- oder Zweitwohnsitz.

Es gibt Luxusversionen, die 80.000,- Euro und mehr kosten und auch in Deutschland die ersten tiny house Feriensiedlungen, die aussehen wie eine Mischung aus Grimms Märchen und Disneyland.

Und es gibt weitere Innovationen. Zum Beispiel in Kiel. Dort gibt es seit Kurzem das „erste Tiny Rathaus der Welt.“

Es sieht nicht ganz so kuschelig aus, wie die Vorbilder aus den Katalogen. Aber es hat Räder, ist mobil und zieht seit über einem halben Jahr durch die Stadt.

Denn es ist ein rollendes Beteiligungsformat.

Unter dem Motto „Stadtverwaltung in Menschengröße“ findet sich das kleine rollende Rathaus an Plätzen und bei Veranstaltungen in der Stadt ein.

Laut der Projektinitator*innen ist das Tiny Rathaus „eine Testfläche für Partizipation und öffentliche Innovation. Mit einem mobilen Raum kommt die Stadtverwaltung zu den Bürger*innen in ihren Stadtteil und lädt auf Augenhöhe zum Gespräch ein.“

Auf den ersten Blick könnte man das Konzept mit einem der typischen „Dialogformate“ verwechseln, mit denen Vorhabenträger vor Ort in betroffenen Kommunen Akzeptanz für ihre Maßnahmen fördern wollen. Doch hinter dem Tiny Rathaus steckt mehr – in vieler Hinsicht:

Zunächst ist es von Anfang an als ko-kreatives Projekt an den Start gegangen. Konzept, Umsetzung, Erprobung und Betrieb ist ein Gemeinschaftsprojekt von Stadtverwaltung und dem Kreativzentrum Anscharcampus. Es handelt sich um eine Initiative von Künstler*innen, Designer*innen und vielen anderen kreativen Menschen, die sich für nachhaltige Zukunftsgestaltung engagieren.

Im Entwicklungsprozess wurden aber auch Bürgerinnen und Bürger der Stadt sowie Mitarbeitende der Stadtverwaltung einbezogen. Denn tatsächlich haben die Angebote des Tiny Rathauses zwei Zielgruppen: Verwaltung und Einwohner*innen. Da es in Kiel auch darum geht, die Verwaltung innovativer und bürgernäher zu gestalten, sind die Mitarbeitenden der Stadt dabei von großer Bedeutung.

Deshalb gab es schon 2020 „Testwochen“ mit verwaltungsinternen Formaten und Angeboten.

Das führt zu echtem Rückenwind. “Es gibt ganz viele Menschen in der Kieler Verwaltung, die Lust haben, etwas zu verändern”, erklärte Projektleiterin Sophie Mirpourian.

Mit der offiziellen Einweihung Mitte 2022 wurde das Tiny Rathaus dann weit mehr als nur eine „Dialogbox“ zwischen Verwaltung und Bürger*innen. Von Anfang an konnten sich auch Initiativen und Vereine bewerben, die ihr Konzept für eine bessere Stadt bereits ausgearbeitet haben und es der Öffentlichkeit präsentieren wollen.

Heute ist das Tiny Rathaus Ort für vielfältige Dialoge, unterschiedliche Beteiligungsansätze und Resonanzbecken für eine sich transformierende Verwaltung. Auf der eigenen Webseite des Projektes sind Termine und Standorte zu finden, ebenso wie Anregungen für die Nutzung durch die Bürgerschaft.

Das Wichtigste dabei ist laut Projektteam: „Hier dürfen neue Dinge ausprobiert und auch Fehler gemacht werden.“

Und spätestens dieser Satz zeigt den Verwaltungserfahrenen unter uns: Das Tiny Rathaus in Kiel mag zwar winzig erscheinen, in Sachen Beteiligungskultur ist es doch ein Riese.

Und definitiv zur Nachahmung empfohlen.

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