#226 | Wann lohnt Beteiligung?

Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung. Aber wann? Und wozu? Ein einfaches Tool kann Klarheit bringen.

Ausgabe #226 | 2. Mai 2024

Wann lohnt Beteiligung?

Der kleine Ralph hatte Glück. Geboren wurde er im Jahr 1942. In Johannesburg.

Als wenige Jahre später Ralphs Schulbildung begann, führte die Nationale Partei Südafrikas gerade ihren Wahlkampf mit der Ansage, im Falle eines Erfolges die Apartheid einzuführen.

Wie wir heute wissen, gewann sie die Wahl. Und etablierte in den Folgejahren eines der perfidesten rassistischen Systeme in der Geschichte der Menschheit.

Ralph hatte Glück. Er war das Kind von Migrant*innen. Sein Vater war ein englischer Einwanderer, seine Mutter hatte schottische Wurzeln. Das hieß also: Er war weiß.

Und so erhielt er eine solide akademische Bildung, zunächst in Südafrika, später in der renommierten London School of Economics. Ein Grund für die Übersiedelung nach England war auch seine Ablehnung der Apartheid.

Ralphs vollständiger Name lautet Ralph Douglas Stacey. Bekannt wurde er nicht als Apartheidsgegner, sondern für seine Beiträge zur Organisationstheorie.

Und um ehrlich zu bleiben: So richtig bekannt wurde er außerhalb einer vergleichsweise kleinen Blase nie.

Dabei hat kaum jemand so tief wie er Organisationen als komplexe, reaktionsfähige Systeme durchdacht.

Besonders spannend sind seine Beiträge zu der Frage, wie komplexe Organisationen Kreativität erzeugen und fördern können.

Damit hat er früh Dinge vorweggenommen, die dann später im Agilen Management zum Thema werden sollten.

Dort wird bis heute ein Tool eingesetzt, das auch nach ihm benannt wurde: die Stacey-Matrix.

Gedacht war sie ursprünglich dafür, die Komplexität eines Projekts zu ermitteln. Die Skala geht dabei von einfach, über kompliziert zu komplex und schließlich chaotisch.

In ihrer ursprünglichen Darstellung beantwortet die Stacey-Matrix die Frage, wie Entscheidungen in Organisationen unter Unsicherheit getroffen werden können.

Die originale Stacey-Matrix ist ein zweidimensionales Koordinatensystem, das auf der Y-Achse die Klarheit der Projektanforderungen und auf der X-Achse die Klarheit des Lösungsansatzes abbildet. Auf Englisch werden diese Achsen als Certainty (X-Achse) und Agreement (Y-Achse) bezeichnet.

Für den Einsatz im agilen Kontext wurde die Stacey-Matrix im Laufe der Zeit deutlich modifiziert.

Heute wird sie hauptsächlich genutzt, um zu ermitteln, in welcher Intensität Agile Arbeitsweisen eingesetzt werden sollen.

Agile Methoden werden dann empfohlen, wenn das Projekt in den Bereichen „komplex“ oder „chaotisch“ verortet wird. Das funktioniert und deshalb taucht die Stacey-Matrix in fast allen Seminaren und Workshops zur Ausbildung in Scrum und anderen agilen Techniken auf.

Unser Thema ist aber die politische Teilhabe. Und auch hier kann die Matrix von Stacey erstaunlich hilfreich sein. Sogar im (vereinfachten) Original.

Deshalb lohnt sich ein genauer Blick darauf, beginnend mit den beiden Achsen:

Die vertikale Achse „Agreement“ reicht von einer hohen Übereinstimmung bis zu keiner Übereinstimmung in Bezug auf die zu treffende Entscheidung. Im Extremfall sind sich alle einig, im anderen Extrem gibt es so viele Meinungen wie involvierte Akteur*innen.

Die horizontale Achse „Certainty“ spiegelt die Sicherheit der Entscheidungsträger*innen in Bezug auf die zu treffende Entscheidung oder das gewählte Vorgehen wider. Im einfachsten Fall herrscht eine hohe Sicherheit, im anderen Extrem herrscht dagegen völlige Ahnungslosigkeit.

Aus diesem Spannungsfeld resultieren unterschiedliche Felder mit einer jeweils ganz eigenen Management-Strategie.

Im linken unteren Feld geht es um eine simple Entscheidung. Es gibt eine hohe Übereinkunft in Bezug auf die zutreffende Entscheidung und das optimale Vorgehen. Die Strategie: einfach machen.

Direkt daran grenzt der Bereich, in dem Sicherheit und Übereinstimmung weniger klar sind, ein klassisches Consulting-Szenario. Im Beteiligungskontext gedacht, heißt dies: Angebote mit vergleichsweise geringer Beteiligungstiefe wie Konsultationen können sinnvoll sein.

Ist die Sicherheit relativ gering, aber die Übereinstimmung vergleichsweise hoch, ist da der ideale Einsatzraum für losbasierte Verfahren wie z. B. Bürgerräte. Denn es geht um Qualität, weniger um Konfliktbearbeitung.

Im dritten Bereich der Stacey-Matrix haben Akteur*innen unterschiedliche Interessen, oft sogar entgegengesetzte Ziele. Gleichzeitig ist relativ klar, dass etwas passieren muss und gewisse Schritte notwendig oder unausweichlich sind. Dies ist das klassische Szenario der Betroffenenbeteiligung. Es geht um Qualität, aber eben auch um die Erzielung von Einvernehmen.

Rechts oben landen Projekte und Vorhaben, bei denen so gut wie keine Übereinkunft und zugleich hohe fachliche Unsicherheit herrscht. Die Gefahr des Scheiterns ist sehr hoch. Für die Beteiligung heißt das: Irgendjemand muss erst noch seine Hausaufgaben machen. Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit würde hier weder eine Entscheidung von „oben“ akzeptiert noch würde Beteiligung funktionieren.

So simpel diese Matrix ist: Sie kann bei der Abwägung, ob Beteiligung gedacht werden sollte – und in welcher Ausprägung, nur eine erste Orientierung bieten.

Das aber kann sie. Und sie zu nutzen, ist einfach und erfordert nur wenig Zeit.

Neben der Stakeholdermatrix und dem komplexeren Beteiligungsscoping ist sie eine – vergleichsweise einfache – Methode zur Vorbereitung eines Beteiligungskonzeptes.

Ganz spannend ist übrigens noch eine weiterer, relativ kleiner Bereich in der Matrix: das legendäre „Edge of Chaos“.

Im Übergang zwischen den Bereichen „komplex“ und „Chaos“ verortet, ist dies ein schmales Fenster, in dem es eine maximale Chance auf Innovation gibt.

Dort kann Beteiligung zu sensationellen Ergebnissen führen.

Dort ist sie aber auch besonders anspruchsvoll.

Innovation durch Beteiligung ist ein Thema, dem wir eine eigene, kommende Ausgabe von demokratie.plus widmen wollen.

Denn Innovation durch Beteiligung entsteht nicht zufällig. Sie muss gekonnt sein. Vor allem aber:

gewollt.

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