#153 | Digitale Radikale

Immer wieder lesen wir, Attentäter hätten sich im Internet radikalisiert. Aber wie funktioniert das eigentlich genau? Und kann man das verhindern?

Ausgabe #153 | 8. Dezember 2022

Digitale Radikale

Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag. Stephan Balliet wählte das Datum bewusst.

Der Rechtsextremist plante an diesem Tag im Oktober 2019 die Synagoge in Halle zu stürmen, um ein Massaker anzurichten.

Und er war gut vorbereitet.

Er hatte, auch mit Hilfe eines 3d-Druckers, selbst Schusswaffen und sogar Handgranaten hergestellt, eine „Dokumentation“ online gepostet und einen Livestream organisiert.

Als Ziel kamen eine Synagoge, eine Moschee und ein Antifa-Zentrum in die engere Auswahl. Am Ende entscheid er sich für jüdische Opfer, da „diese auch hinter muslimischer Einwanderung nach Europa steckten.“

Er dachte an alles. Sogar daran, seine Ankündigung im Internet auf englisch zu posten, um so mehr Wirkung zu erreichen.

Und doch scheiterte er.

Schlicht an der Stabilität der Synagogentür. Im Stream war zu beobachten, wie er darauf feuerte, Granaten dagegen warf und dennoch nichts ausrichten konnte.

Das frustrierte den Mann so sehr, dass er begann, willkürlich auf Passanten zu feuern. Er tötete unmittelbar vor der Synagoge Jana L., kurz darauf im nahe gelegenen „Kiez-Döner“ den Malerlehrling Kevin S.

Er schoss auf weitere Menschen und lieferte sich eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei, die zu weiteren unbeteiligten Opfern führte.

Im späteren Prozess wurde offengelegt, dass er, so die Richterin „kruden Verschwörungstheorien“ anhing, die jeder Logik entbehrten und sich vor allem im Internet mehr und mehr radikalisiert hatte.

Und damit ist er, obgleich offiziell ein Einzeltäter, kein Einzelfall.

Radikalisierungsprozesse wie bei Stephan Balliet finden Tag für Tag statt. Zum Glück enden nur relativ wenige tatsächlich in terroristischen Anschlägen – doch jedes Opfer ist eines zu viel.

Und mit jedem und jeder Radikalisierten wird die Demokratie weiter ausgehöhlt.

Doch was heißt „Radikalisierung im Internet“? Wie läuft so ein Prozess ab? Einmal auf den falschen Google-Link geklickt? In einem Forum breitgequatscht worden?

Tatsächlich sind Radikalisierungsprozesse immer komplex – und nie monokausal, dafür aber oft erstaunlich ideologiefrei.

Jens Ostwaldt, Professor an der IU Internationalen Hochschule in Erfurt, beschäftigt sich schon lange mit Radikalisierungsforschung. Er hielt auf dem D³ Kongress #deutschland #digital #demokratisch Ende November 2022 einen spannenden Vortrag. Die Zusammenfassung finden Sie hier.

„Radikalisierung stellt eine große Herausforderung für die Gesellschaft dar“, sagt Ostwaldt. Und weiter:

„Die Manifestation dieser Herausforderung hat sich in den letzten Jahren stetig verändert. Dabei spielt Digitalität eine große Rolle; nicht zuletzt unterliegen auch Rekrutierungsstrategien radikalisierender Akteur*innen diesen gesellschaftlichen Trends.“

Radikalisierung ist kein linearer Prozess und er ist von vielen Faktoren abhängig. Es gibt umfangreiche Forschung dazu, aber keine einfachen Erklärungen.

Allerdings gibt es einige wesentliche Erkenntnisse. Im Berlin Institut für Partizipation haben wir hier vor allem drei zentrale Treiber von Radikalisierung ausgemacht.

Auslöser für einen Radikalisierungsprozess sind in der Regel Ängste. Diese Ängste können ökonomisch begründet sein, es kann sich aber auch um soziale Ängste handeln.

Es kann ganz reale Bedrohungen geben, oder sich um objektiv unbegründete Ängste handeln. Sie können ein Gefühl von Hilflosigkeit oder Frustration auslösen, die Wahrnehmung erzeugen, keine Wertschätzung zu erfahren oder isoliert zu sein.

Wenn zu diesen Ängsten nun noch ein „Angebot der Polarisierung“ kommt, treibt das den Radikalisierungsprozess weiter an. Polarisierung bietet Feindbilder.

Ob einzelne Menschen, ethnische, soziale, politische oder religiöse Gruppen: Die Ursache für die eigenen, nicht zu bewältigenden Ängste müssen auf „Schuldige“ übertragen werden können.

Wichtig ist nun der dritte Faktor: Die Vermeidung von offenem Dialog. Besonders effektiv ist dabei eine Mischung aus Bestätigung und Isolation. Bestätigung durch andere Radikalisierte und Verschwörungsmythen, die keine Logik brauchen, solange es Gleichgesinnte gibt.

Gleichzeitig führt eine Isolation von Andersdenkenden dazu, dass das so mühsam zusammengezimmerte Weltbild nicht aus den Fugen gerät. Diese Isolation kann individuell sein oder auch kollektiv. Die eigene, ängstegetriebene, hassbeförderte Weltsicht nie hinterfragen zu müssen, aber von Gleichgesinnten bestätigt zu sehen, kann die Radikalisierung dann über Grenzen treiben, die in Gewalt münden.

Wenn wir nun auf die Strukturen schauen, die die zunehmende Digitalisierung schafft, sehen wir, dass sich diese Treiber im digitalen Raum besonders intensiv wiederfinden.

Dabei ist weniger das geradezu unbegrenzte Angebot an absurden Verschwörungserzählungen ein Problem. Die gab es zu allen Zeiten. Schon die Hexenjagden im Mittelalter funktionierten ohne das Internet ganz gut.

Das besondere Angebot des Internets ist die Chance zur Bestätigung in sozialen Blasen – dem zentralen Geschäftsmodell der sogenannten Sozialen Medien.

Verstärkt noch durch die Chance zur Vermeidung kritischer Dialoge. Sobald man mit einem Andersdenkenden in eine Debatte kommt, die Argumente zu bedrängend und schmerzhaft werden, ist der Rückzug nur einen einzigen Klick entfernt.

Noch besser: Auf nahezu allen Plattformen kann ich mit wenigen weiteren Klicks den anderen „blockieren“, also dafür sorgen, dass der mir nie mehr über den Weg läuft – und ich für ihn vollständig unsichtbar werde.

Manchmal führt das zu seltsam schrägen Diskursen. Erst kürzlich hatte ich auf einer solchen Plattform einen längeren Artikel zu losbasierten Bürgerräten veröffentlicht. Und darin auch erwähnt, dass die Idee des „Losens statt Wählens“ auch bestimmte rechtsradikale Kreise anspricht – weil es mit ihrer Erzählung vom „gesunden Volksempfinden versus korrupte Eliten“ kompatibel ist.

Das hat wiederum einen „Demokratie-Aktivisten“ auf die Palme gebracht, der mich mit einem ganzen Rudel an Kommentaren angriff – meine Gegenargumente aber dann nicht ertragen konnte und mich kurzerhand blockierte.

Auf dieser speziellen Plattform führte das dazu, dass ich seine Kommentare (und sogar meine eigenen Antworten) nicht mehr sehen kann, also auch nicht weiter darauf reagieren – während sie für alle anderen User sichtbar sind.

Für uns beide Diskutanten ist der Diskurs damit allerdings tot. Wir werden uns – zumindest dort – nie wieder über den Weg laufen.

Nun habe ich keine Sorge, dass sich der mir eigentlich ganz sympathische Mensch zum Attentäter radikalisiert. Aber seine Diskursfähigkeit hat der Vorgang sicher nicht gefördert.

Diese digitalen Strukturen also sind es, die im Zusammenspiel mit den anderen geschilderten (und weiteren) Faktoren Radikalisierung nicht verursachen, aber verstärken.

Das führt uns zu der Frage. Was tun?

Welche Möglichkeiten gibt es, solche Prozesse zu stoppen oder zumindest zu behindern?

Zunächst einmal ist es wichtig, welche Angebote unsere Gesellschaft ihren Mitgliedern zum Umgang mit den skizzierten Ängsten macht. Ängste zu haben, gilt viel zu oft noch als Makel. Sie gar zu artikulieren als Charakterschwäche – oder als Dummheit.

Wir haben es gerade erst in der Corona-Debatte erlebt. Ängste vor Isolation, vor Impfungen, vor dem finanziellen Ruin erfassten erhebliche Teile der Bevölkerung. Die Aufforderung, der Wissenschaft zu glauben und der Politik zu vertrauen, hat – wie wir wissen – viele Menschen nicht erreicht; sie als „Covidioten“ zu bezeichnen hat (siehe oben) Radikalisierung nicht verhindert, sondern eher befördert.

Im digitalen Raum müssen wir daran arbeiten, die von Algorithmen getriebenen Strukturen der Blasen und der Diskursvermeidung aufzubrechen.

Tatsächlich mag es auf den ersten Blick widersprüchlich klingen, aber: Mehr Streit kann weniger Radikalisierung bedeuten – wenn er gut organisiert ist.

Und vor allem brauchen wir, treue Leser*innen meines Newsletters ahnen es schon, mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen für alle. Und da ich zu diesem Thema schon so oft so viel gesagt und geschrieben habe, möchte ich heute das Schlusswort dem bereits erwähnten Prof. Dr. Jens Ostwaldt überlassen:

„Für die Gestaltung der Gesellschaft bedeutet das vor allem eines: Menschen müssen das Gefühl haben, ihr eigenes Leben lenken und leiten zu können. Diese Selbstwirksamkeit ermöglicht es Ihnen, Visionen für ihr Leben zu entwickeln. Entscheidend ist, dass es zu einem Großteil um Gefühle geht: Das Gefühl ernst genommen zu werden, das Gefühl in meinem Umfeld etwas bewegen zu können, das Gefühl mit meinen Problemen nicht allein zu sein.“

Besser hätte ich es nicht formulieren können.

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