#50 | Wissen als Risiko

In einer Demokratie diskutieren und entscheiden meist Menschen, denen es an Wissen mangelt. Das ist ein Risiko. Und eine Chance.

Ausgabe #50 | 10. Dezember 2020

Wissen als Risiko

„Um das beurteilen zu können, wissen Sie zu wenig“. Erst kürzlich hörte ich diesen Satz von einem norddeutschen Amtsleiter – in einem Online-Beteiligungsformat. Die Antwort des Plenums: kaltes Schweigen.

Nun gehören peinliche Schweigephasen zu unserer aktuellen Corona-geprägten Online-Diskurskultur irgendwie dazu, wir haben uns alle daran gewöhnt. Diese Schweigephase dauerte jedoch ungewöhnlich lang. Man konnte förmlich sehen, wie es in einigen Köpfen arbeitete.

Schließlich brach es aus einem der Anwesenden, einem der Sprecher einer Bürgerinitiative, die sich seit rund sieben Jahren mit dem in der Veranstaltung behandelten Verkehrsprojekt beschäftigt, hervor: „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst?“

Natürlich war es sein Ernst. Und die Stimmung im Eimer. Dabei hatte der arme Amtsleiter im Grunde nicht nur recht, sondern fühlte sich zuvor in die Enge getrieben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Profis in Diskussionen mit Laien zunächst einmal eine unendlich erscheinende Kaskade von Einwänden und Alternativlösungen über sich ergehen lassen müssen, von denen die meisten entweder auf den ersten Blick untauglich sind, gegen geltendes Recht verstoßen oder schon vor langer Zeit von ihnen geprüft und aus guten Gründen verworfen wurden.

Bei diesem Wissensgefälle noch emotional entspannt, argumentativ und wertschätzend zu reagieren, fällt nicht leicht.

Tatsächlich ist das unterschiedliche Wissensniveau in demokratischen Prozessen immer wieder eine der größten Herausforderungen. Egal ob in gewählten Parlamenten, in freien Debatten oder in organisierten Beteiligungsprozessen: Fast immer wissen die Expert*innen erheblich mehr über den Sachverhalt, als diejenigen, die diskutieren oder entscheiden.

Im Deutschen Bundestag hat man die Problematik aus Sicht der Abgeordneten charmant gelöst: Expertenanhörungen finden ausschließlich in Ausschüssen statt, dort müssen die Fachleute ihren Input vorab zu Protokoll geben und bekommen dann in der Regel noch zwei bis maximal drei Fragen gestellt – für die Antwort haben sie meist noch eine Minute Zeit. Kein Risiko für die Parlamentarier, allzu sehr beschämt zu werden, es sei denn, man stellt eine dämliche Frage. Da die Fragen aber in der Regel zwischen Abgeordneten und den von ihnen ausgewählten Expert*innen abgesprochen werden, ist auch dieses Risiko marginal.

Ich habe solche, stark ritualisierten Prozesse oft genug mitgemacht, um zu wissen: Ausschussanhörungen haben in der Regel weniger mit Wissensvermittlung als mit Selbstbestätigung zu tun. Die Erarbeitung von Wissensgrundlagen sowie deren Verarbeitung im Parlament findet ¬– durchaus effektiv – an anderen Stellen und zu anderen Zeiten statt. Ein zentrales Problem aber bleibt: Die Entscheidungsträger*innen müssen ihre Meinungsbildung am Ende immer auf Basis eines höchst selektiven Teilwissens treffen.

Und das ist tatsächlich eine der großen Herausforderungen unserer Zeit: die Tragödie des Wissens.

In der Geschichte der Menschheit hat sich unser Wissen stetig vermehrt. Selbst der gebildetste Mensch kann heute nur einen winzigen Bruchteil des Menschheitswissens zur Kenntnis nehmen. Wir wissen nicht zu viel. Aber es gibt zu viel Wissen. Also müssen wir auswählen. Oft allerdings wählen andere für uns aus.

Und sollten wir es doch einmal selber tun, neigen wir dazu, uns für jenes Wissen zu begeistern, das unsere Ansichten, unsere Meinungen, unsere Haltung, unsere Urteile und Vorurteile bestätigt. Viele von uns wollen nicht alles wissen. Sie lassen kein Wissen zu, das verstört oder beunruhigt.

Die unmittelbare Folge ist ein Zerfall unserer Gesellschaft in verschiedene Wissensgemeinschaften. Die Möglichkeiten für gesellschaftlichen Konsens schwinden, die Uneindeutigkeit nimmt zu.

Die daraus leicht resultierende Beliebigkeit ist die wahre Tragödie des Wissens. Sie entwertet Wissen, weil es so kaum noch als Handlungsgrundlage taugt. Denn wir fühlen uns vom Anspruch des Wissens oft überfordert. Tatsächlich ist die zentrale Herausforderung gerade in demokratischen Prozessen, ob in Parlamenten oder in Beteiligungsstrukturen der Umgang mit Nichtwissen.

Der arme Amtsleiter zu Beginn unseres Textes ging davon aus, dass ein – sein – mehr an Wissen nicht nur seine Argumentation per se wertvoller machen, sondern ihm als Wissenden auch mehr Respekt verschaffen würde. Er hatte sich getäuscht.

Tatsächlich kann ein (vermeintliches) Mehr an Wissen in einer Demokratie nie die Pflicht zur inhaltlichen Debatte ersetzen. Und dies ist eben meist eine Debatte mit weniger Wissenden. Da wir aber alle in einer Welt leben, deren Wissen wir unmöglich vollständig erfassen können, hat derjenige, der mehr weiß, nicht automatisch recht. Er hat allenfalls bessere Durchsetzungschancen.

Bei vielen Themenfeldern macht es Sinn, zu Beginn eines Diskursprozesses nötiges Wissen zur Verfügung zu stellen. Doch schon bei einer gewöhnlichen Verkehrswegeplanung übersteigt das Maß an Wissen den Anteil des von den Beteiligten Verdaubaren um ein Vielfaches.

Eine bloße Herstellung von „Transparenz“ durch wahre Informationslawinen hilft da wenig. Im Gegenteil: Oft erzeugt dies genau die Beliebigkeit im Wissen, das wir oben skizziert haben: Jeder sucht sich aus dem Wissen aus, was ihm passt.

Der Umgang mit Nichtwissen ist in einer Demokratie ein ganz entscheidender Resilienz-Faktor. Die Akzeptanz von Nichtwissen bei allen Beteiligten, die Erkenntnis, dass Wissen zwar absolut ist, der Umgang damit jedoch Verhandlungssache, schmerzt nicht nur Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen. Sie ist aber Grundlage einer Demokratie.

Wie können wir dennoch der Beliebigkeit des Nichtwissens entkommen?

Das hat etwas mit Prinzipien zu tun. Und mit Haltung. Doch darüber sprechen wir in der kommenden Woche. Oder natürlich hier. Wenn Sie mögen.

Herzlichst, Ihr Jörg Sommer

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