#117 | Demokratie? Zu teuer!

Unser Parlament ist zu groß und zu teuer. Sagen fast alle Parteien. Wenn sich alle einig sind, muss es ja stimmen.

Ausgabe #117 | 31. März 2022

Demokratie? Zu teuer!

Stimmen bei Wahlen kosten Geld. Unter Umständen eine Menge. Klingt merkwürdig? Ist aber so.

Bei jeder Art von Abstimmung, und dazu gehören auch Wahlen, kann es einmal knapp ausgehen. Und je knapper es ausgeht, desto spannender werden die „Was-Wäre-Wenn“-Phantasien.

Besonders spannend werden sie dann, wenn die Wahlsysteme und Ergebnisrechnungen kompliziert sind. Und manchmal sorgt die Absicht, mittels diverser Ergänzungen und Modifikationen für bessere Ergebnisse zu sorgen, genau für das Gegenteil.

Unglaublich frustrierend war es für die Grünen bei der aktuellen Wahl im Saarland. Dort scheiterten sie mit 4,99502 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Ganze 23 Stimmen fehlten landesweit.

Nun wird es fünf Jahre lang keine grünen Abgeordneten im Landtag des Saarlandes geben, keine Referent*innen, keine Anträge, keine Redebeiträge.

Und das alles nur wegen einer Hürde, die eine mangelnde Arbeitsfähigkeit des Parlaments durch Zersplitterung in Kleinstgruppierungen verhindern soll.

Das Ansinnen ist positiv, gerade auch aufgrund der Erfahrungen mit dem Scheitern der Weimarer Republik.

Dass auch nur ein Mitglied der Grünen nun das Gefühl hat, mit diesem Wahlergebnis einen wichtigen Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie geleistet zu haben, ist unwahrscheinlich.

Dafür spart es eine Menge Geld. Weil Grüne, Linke und FDP nicht im Landtag vertreten sind, sind es nun drei statt sechs Fraktionen, die mit Personal und Finanzen ausgestattet werden müssen.

Den Bund der Steuerzahler dürfte es freuen, der wettert seit Jahren gegen zu teure Parlamente. „Klasse statt Masse muss wieder im Vordergrund stehen“, formulierte dieser im vergangenen Jahr im Rahmen einer Kampagne gegen zu viel Abgeordnete.

Vor diesem Hintergrund dürfte ihn ein anderes Ergebnis maßlos geärgert haben. In München ging es bei der letzten Bundestagswahl um ähnlich wenige Stimmen.

Dieter Janecek von den Grünen sitzt zwar im Bundestag, hatte aber den Kampf um das Direktmandat in seinem Wahlkreis verloren. Gerade mal 137 Stimmen fehlten, um seinen Mitbewerber von der CSU, Stephan Pilsinger, aus dem Rennen zu werfen. Ein hauchdünnes Ergebnis – mit weitreichenden Folgen für den Bundestag.

Janecek rechnete gegenüber dem Bayerischen Rundfunk vor: „Wenn ich gewonnen hätte, dann wären jetzt 17 Abgeordnete des Deutschen Bundestages nicht im Bundestag. Und der Steuerzahler hätte circa 35 Millionen Euro gespart und ein CSU-Abgeordneter wäre weniger im Bundestag.“

„Schuld“ daran ist die Idee, unser Wahlverfahren durch eine Verknüpfung von Personen- und Listenwahl, durch Überhang- und Ausgleichmandate gerechter zu machen.

Wie wir bereits gesehen haben: Je filigraner ein System, desto absurder erscheint es, wenn bestimmte Grenzwerte erreicht werden.

Dann bekommen wir solche Zahlenspiele wie in München. Traumhafte Argumente für jene, die unsere parlamentarischen Institutionen delegitimieren wollen. „Zu groß“ und „zu teuer“ funktioniert eben einfach besser als „am besten ganz abschaffen“. Und es funktioniert auch bei denen, die zwar die Demokratie bejahen, aber mit vielen Akteur*innen nicht einverstanden sind.

Also bei uns allen.

Denn tatsächlich gilt im Grunde für jede*n Wähler*in: Die übergroße Mehrheit der Parlamentarier*innen gehört einer Partei an, die wir nicht gewählt haben. Tief im Innersten sind sie aus unserer Sicht also überflüssig.

Es schmerzt. Doch es ist ein unverhandelbarer Wesenszug von Demokratie: Die Mehrheit der Akteur*innen teilt meistens NICHT unsere Meinung. Das nervt. Bei Wahlen, in Talkshows, am Stammtisch und auch in Bürgerversammlungen und Beteiligungsprozessen.

Aber genau aus diesem Grund brauchen wir diese Prozesse.

Es ist die große Herausforderung der Demokratie: Sie kostet Nerven, verbraucht Ressourcen, zelebriert Ineffizienz – für Ergebnisse, die allzu oft weit von unseren eigenen Vorstellungen entfernt liegen.

Ist blöd. Muss aber so sein.

Umso wichtiger ist aber der Diskurs. In Parlamenten, zwischen Bürger*innen und Politiker*innen und Bürger*innen untereinander. Eine Voraussetzung dafür ist aber, dass es auch genug Politiker*innen gibt.

In unserer bundesrepublikanischen Demokratie halten sich die Bundestagsabgeordneten deshalb die Hälfte des Jahres in ihren Wahlkreisen auf. Damit solche Dialoge möglich sind.

Vor diesem Hintergrund sind auch Debatten um die Parlamentsgröße und -kosten mit Vorsicht zu genießen. Wenn selbst in der ZEIT Sätze zu lesen sind wie: „Vor der Wahl gab es Befürchtungen von einem Bundestag mit mehr als 800 Abgeordneten – dazu ist es jedoch nicht gekommen“, dann ist das unreflektiert.

Wenn eine AfD davon spricht, der Bundestag sei „aufgebläht“, dann hat das Methode. Das so forcierte Bild der faulen Politiker*innen, die keinen Nutzen für das Volk haben, verfehlt seine Wirkung nicht.

Dabei ist die Debatte um die Zahl der Abgeordneten letztlich nur eine Projektionsfläche für die Delegitimierung unserer demokratischen Strukturen. Noch dazu eine im Prinzip unpassende.

Vergleicht man die Zahl unserer Abgeordneten mit denen der anderen europäischen Länder, so rangiert Deutschland beim Verhältnis zwischen Wähler*innen und Gewählten am unteren Ende der Tabelle (Platz 24 von 27). In den meisten Ländern Europas kommen auf eine*n Parlamentarier*in weniger als 40.000 Bürger*innen. In Deutschland sind es deutlich über 100.000.

Der Deutsche Bundestag ist also relativ klein. Und er ist billig. Die Aufwandsentschädigungen aller Abgeordneten des Bundestages kosten uns pro Bürger*in etwa einen Euro – pro Jahr.

Rechnen wir alle Kosten für den Bundestag zusammen und legen diese auf die Steuern um, dann bezahlt ein*e durchschnittliche*r Arbeitnehmer*in pro Jahr etwas unter 10,- Euro für unsere zentrale demokratische Institution. Aktuell bekommt man dafür nicht einmal fünf Liter Benzin.

Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Unser Parlament ist es auch nicht. Aber es ist weder zu groß noch zu teuer.

Demokratie braucht Chancen auf Diskurse. Auch und gerade zwischen Wähler*innen und Gewählten. Deshalb sollten erstere ein Interesse daran haben, dass es nicht zu wenige von letzteren gibt.

Immer dann, wenn vermeintliche Kosten oder andere fadenscheinige Argumente ins Feld geführt werden, um Parlamente zu delegitimieren, sollten wir genau hinschauen und uns nicht verwirren lassen.

Natürlich könnte vieles anders und manches besser funktionieren. Dass etwas aber besser wird, indem man weniger Ressourcen dafür bereitstellt, ist eher unwahrscheinlich.

Demokratie ist etwas wert. Und sollte uns deshalb auch etwas wert sein.

Und wenn wir alle nur einen Big Mac im Jahr weniger essen würden, hätten wir genügend Geld, um die Zahl der Beteiligungsveranstaltungen in unserem Land zu verdoppeln.

Das wäre gesund für unsere Körper – und für unsere Gesellschaft.

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