#21 | Demokratie ist Veränderung

Ist die Stabilität unserer freien, demokratischen Gesellschaft in Gefahr? Nein. Das ist sie nicht. Denn es hat sie nie gegeben.

Ausgabe #21 | 21. Mai 2020

Demokratie ist Veränderung

Die Zahl der Verschwörungstheoretiker scheint aktuell in rasantem Wachstum begriffen. Die Töne auf den Straßen und in den asozialen Medien werden immer schriller:

Die demokratisch gewählten Regierungen geraten unter Druck. Populisten und Demokratiefeinde, egal ob an der Regierung oder in der Opposition, wittern ihre durch die Verwerfungen in der Corona-Pandemie entstehende Chance: Jede Woche erscheint ein neuer Beststeller, der den Niedergang der freiheitlichen Demokratien postuliert. Alles scheint sich zu verändern.

Ist die Stabilität unserer freien, demokratischen Gesellschaft in Gefahr?

Nein. Das ist sie nicht. Denn es hat sie nie gegeben.

Gesellschaften verändern sich. Ob demokratische Gemeinwesen oder autokratische Diktaturen, nur selten hatten sie unverändert über viele Generationen Bestand.

Im Gegenteil: Stillstand bedeutete nur allzu häufig den Anfang vom Ende. Immer wieder wurden Gesellschaften, die über einen langen Zeitraum keine Veränderungen zuließen, instabil, von Gegenbewegungen delegitimiert und von Umwälzungen mit revolutionärem Charakter hinweggefegt.

Unser gesellschaftliches Modell, die repräsentative Demokratie, ist historisch eher jung. Ein Vorläufer war die attische Demokratie, die sich im 5. Jahrhundert vor Christus entfalten konnte. Es war die Zeit der größten Machtentfaltung Athens. Die attische Demokratie war eine auf das Prinzip der Volkssouveränität aufgebaute politische Ordnung. Dieser Verfassungstypus war ein direktdemokratisches Modell, das allerdings nur einem Teil der Bevölkerung Attikas das Recht auf Partizipation an politischen Entscheidungen gab.

Obwohl die repräsentative Demokratie in den vergangenen zwei Generationen weltweit das Modell mit der größten Attraktivität in zahlreichen unterschiedlichen Nuancen und Ausprägungen war, ist es auch ein Modell, das erkennbar an Grenzen stößt. Auf den ersten Blick erscheint es paradox, von Auszehrungserscheinungen in den klassischen Demokratien des Westens zu sprechen, denn seit dem historischen Jahr 1989, in dem es zum Zusammenbruch der zweigeteilten Welt kam, ist die Zahl der Länder, in denen demokratische Wahlen stattfinden, stark angestiegen.

Allerdings müssen wir feststellen, dass eine Ausweitung demokratischer Systeme durchaus mit einer Delegitimierung demokratischer Willensbildung und mit einem autoritären Populismus verbunden sein kann. Wolfgang Merkel, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin, spricht von „defekter Demokratie“.

Aktuell erleben wir in vielen demokratischen Gesellschaften Rückschritte bei vermeintlichen Standards wie fairen Wahlen, Oppositionsrechten, Transparenz, Pressefreiheit, Rechtssicherheit oder Gewaltenteilung. Die Bertelsmann-Stiftung analysiert und vergleicht seit 2003 in ihrem so genannten Transformationsindex weltweit demokratische Entwicklungen. Sie sieht die demokratische Kultur seit rund fünf Jahren tendenziell auf dem Rückzug.

Auch in Deutschland hat aus unterschiedlichen Gründen eine Entfremdung zwischen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und der Bürgerschaft zugenommen. Die klassischen Volksparteien verlieren an Bindungskraft, die Wahlbeteiligung ist rückläufig, das Vertrauen in die Regelungskraft der Politik sinkt.

Hinzu kommen neue autoritär-nationalistische Bewegungen, die mit Vorurteilen, Ausgrenzungen und des Abstreitens unbequemer Fakten Stimmungen gegen eine rationale Willensbildung betreiben. Die Negation der Fakten ist, befördert durch die Strukturen der asozialen Medien, ein Prinzip, das auch die aktuellen Bewegungen prägt, die gegen die Pandemiemaßnahmen auf die Straße gehen. Das ist nicht neu, gewinnt aber gerade noch einmal eine besondere Dynamik.

Der Befund in den meisten europäischen Ländern ist ähnlich: Überall wird es schwieriger, allein aus politischen Wahlen genug Legitimation und Akzeptanz für Regierungshandeln zu generieren.

Die Stabilität dieser besonderen Form der repräsentativen Demokratie ist also in der Tat gefährdet. Aber, und das sollten wir nicht vergessen, es ist eine sehr spezielle, historisch unglaublich junge Variante der Demokratie.

In der Menschheitsgeschichte ist sie nur ein Wimpernschlag. Was sollte uns zu der Annahme verleiten, sie wäre nun plötzlich die eine, endgültige Variante mit Ewigkeitsgarantie?

Die eingangs erwähnten Lehren aus der Geschichte sind eigentlich recht offensichtlich: So, wie wir unsere Demokratie heute leben, wird sie vermutlich schon in zwei Generationen ein Teil der Geschichte sein. Das muss nicht für die Demokratie an sich gelten, aber es gibt eben mehr als nur eine Variante. Ja, die Zukunft ist schwer zu prognostizieren, völlig unterschiedliche Szenarien sind denkbar. Nichts ist sicher. Fast nichts. Eines schon:

Wenn die Demokratie weiter Bestand haben will, wird sie sich verändern.

Tatsächlich ist Instabilität die Stärke der Demokratie. Ihr Erfolgsprinzip ist die Entwicklung, nicht der Stillstand. Und anders als in der Gründungsphase unserer Republik haben wir heute die Chance, diese Entwicklung nicht als Projekt der Eliten, sondern als Projekt der Bürgerinnen und Bürger zu verhandeln.

Das wird im Zeitalter der postfaktischen digitalen Streitkultur nicht einfach.

Aber spannend.

Herzlichst, Ihr Jörg Sommer

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