Ausgabe #264 | 23. Januar 2025
„Und wie Sie sehen, sehen Sie nichts“
Haben Sie‘s gemerkt? Sie waren, ich gestehe es, in der vergangenen Woche Teil eines sozialen Experimentes. Nach über fünf Jahren und 260 Ausgaben erschien in der letzten Woche erstmals keine Ausgabe von demokratie.plus. Was glauben Sie, wie fielen die Reaktionen aus?
Richtig, den meisten Leser*innen ist es gar nicht aufgefallen. Das ist das Schicksal von Newslettern und anderen Medien. Wer glaubt, alles, was gedruckt, gesendet oder verschickt wird, würde auch gelesen, täuscht sich. Und zwar gewaltig.
Bei werblichen Mailkampagnen liegen die Öffnungsraten meist im einstelligen Prozentbereich. Bei eingeführten Newslettern gelten schon 25 Prozent als beachtlich. demokratie.plus hat in Einzelfällen bis zu 60 Prozent.
Das ist viel. Aber bedeutet eben auch: Im Schnitt öffnet weniger als die Hälfte der Abonnent*innen die Mail, bis zum Ende lesen den Newsletter längst nicht alle.
Das ist so. Und das ist wichtig.
Gerade wenn es um politische Teilhabe geht. Sie ist in der Regel ein Angebot an viele. Wahrgenommen wird es regelmäßig nur von wenigen.
Kürzlich sprach mich die Leiterin einer kommunalen Fachstelle für Beteiligung an. Sie hatte erstmals einen Bürgerhaushalt in ihrer Stadt organisiert – und neben einem Bericht in der Lokalzeitung eine innovative Instagram-Kampagne lanciert.
Am Ende nahmen knapp über 300 Menschen am digitalen Bürgerhaushalt teil. In einer Stadt mit über 80.000 Einwohner*innen.
Im Grunde war das ein Erfolg.
Denn die Zahl der Teilnehmenden war sogar höher als die durchschnittliche Zahl der Views von Posts auf dem städtischen Instagram-Account.
Eine öffentliche Bekanntmachung eines Beteiligungsverfahrens ist erstmal gar keine Einladung. Sie wird erst dann zu einer, wenn sie von einer Person zur Kenntnis genommen wird. Und wenn sie als Einladung verstanden wird.
Was es braucht, damit eine Einladung auch einladend wirkt, haben wir in einer der früheren Ausgaben dieses Newsletters genauer betrachtet.
Für uns bleibt vor allem die Erkenntnis: Tatsächlich laden wir viel seltener viel weniger Menschen zu Beteiligung ein, als wir oft glauben. Das ist kein Fehler, sollte uns aber bewusst sein. Nur dann können wir es berücksichtigen.
Zurück zu unserem Experiment aus der vergangenen Woche. Die Mehrheit hat es also nicht wahrgenommen.
Was war mit den anderen?
Da gab es Reaktionen. Einteilen lassen sich diese in drei Kategorien.
In die erste Kategorie fallen die persönlich Besorgten. Naturgemäß wenige, aber sehr persönliche Mails und sogar Anrufe, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigten. Denn wenn der Sommer am Donnerstagnachmittag bis 18:00 Uhr keinen Newsletter verschickt, kann er nur krank sein. Oder Schlimmeres. Die Sorge war unbegründet, aber emotional berührend.
Die zweite Kategorie vermutete technische oder organisatorische Fehler, fragte freundlich nach, ob da vielleicht was schiefgelaufen wäre.
Die dritte Kategorie brachte Fantasie ins Spiel. Darunter überraschende Vermutungen: Hat der Autor keine Lust mehr? Sind ihm die Ideen ausgegangen? Hat ihn jemand verklagt? Ist er so frustriert über Trumps Triumph, dass ihm die Worte fehlen? Hat LinkedIn seinen Account eingefroren? Kandidiert er für den Bundestag und muss Wahlkampf machen? Bin ich von ihm gesperrt worden? Hat mein Provider die Mails als Spam gesperrt? Oder mein Arbeitgeber?
Fast 50 Prozent der Rückmeldungen waren mit Vermutungen und Fantasien verbunden.
Und auch hier gilt wieder das eingangs geschilderte Phänomen – nur eben gespiegelt: Längst nicht alle, die solche Vermutungen hatten, haben sie mir gegenüber auch geäußert.
Empirisch ist das Experiment also von zweifelhafter Qualität.
Aber es zeigt uns sehr deutlich etwas ganz anderes: Prozesse lösen sehr viele sehr unterschiedliche Reaktionen aus, wenn sie unterbrochen werden.
Vor allem, wenn eine Erklärung ausbleibt.
Das führt uns zu einem unterbelichteten Thema in der Beteiligung. Planung, Beginn und Durchführung sind Phasen in Partizipationsprozessen, zu denen wir uns oft viele und genaue Gedanken machen.
Doch relevant für eine starke Beteiligungskultur sind auch die Phasen, in denen wir nicht beteiligen. Entweder noch nicht, gerade mal nicht oder nicht mehr.
Nur weil es kein Beteiligungsangebot gibt, gibt es deshalb nicht automatisch auch kein Nachdenken bei den potentiell Beteiligten.
Am ehesten ist das nachvollziehbar, wenn in einem Beteiligungsprozess (geplante) Pausen entstehen. Sie sind in längeren Verfahren häufig. Aber sie sind eben auch Phasen, in denen Beteiligte weiterdenken, diskutieren und sich eine Meinung bilden.
Meist funktioniert das. Manchmal entstehen zwischenzeitlich aber auch Meinungsbildungen und Erzählungen, die uns in der nächsten Phase auf die Füße fallen.
Beteiligung als On-Off-Prozess ist immer schwierig. Die Zwischenphasen zumindest mit Informationen zu füllen, ist hilfreich. Noch besser ist es, auch in diesen Phasen den Menschen die Chance zu geben, einem Beteiligungsimpuls zu folgen.
Die Chance, nachzufragen, sollte deshalb immer angeboten werden. Diese Nachfragen dann auch zu beantworten, ist selbstverständlich.
„Beteiligungsfreie“ Zeiten sind Phasen, in denen die Qualität von Beteiligung eben maßgeblich mitbestimmt wird. Dazu braucht es Transparenz, Information und Kommunikationsmöglichkeiten in beide Richtungen.
Und auch hier gilt: Information ist erst dann Information, wenn sie ankommt – nicht, wenn sie abgesendet wird.
Denn auch wenn Newsletter keine Beteiligung sind, so gilt in beiden Fällen:
Wer nichts sieht, macht sich selbst ein Bild. Und das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Bild, das wir erwarten.