#142 | Stonehenge oder Disneyland?

Politischen Entscheidern geht es genau wie uns allen: Unser Bild von der Wirklichkeit ist immer gefiltert.

Ausgabe #142 | 22. September 2022

Stonehenge oder Disneyland?

Zwischenzeitlich sind Sie sicher allerhand Verschwörungsgeschwurbel gewöhnt. Aber kannten Sie diese Geschichte schon?

Das berühmte Stonehenge, der legendär mystische Ort in Südengland, ist nicht authentischer als Disneyland.

Laut Historiker*innen soll der Steinkreis mehr als 4.000 Jahre alt sein.

Doch vor rund zehn Jahren verbreitete sich ein Bild in den sozialen Medien. Es stammt offensichtlich aus den 50er Jahren. Man sieht darauf, wie Bagger unter der Aufsicht von unbekannten Männern Stonehenge zusammenbauen.

Das prähistorische Ensemble war also nur eine Erfindung für Tourist*innen? Sind Generationen von Forscher*innen darauf reingefallen? Haben sie uns gar bewusst angelogen?

Oder ist das Foto eine Fälschung? Einer der vielen absurden Fakes im Internet?

Das Foto ist tatsächlich echt.

Und es war nicht das erste Mal, dass an dem Steinkreis herumgezimmert wurde.

Schon Ende des 19. Jahrhundert war Stonehenge ein Touristenmagnet. Damals allerdings eher ein chaotischer Steinhaufen. Ab 1901 kostete die Besichtigung Eintritt.

Und da wollte man schon etwas mehr bieten.

Über die Jahre hinweg wurden mehr und mehr Steine aufgerichtet, Quersteine aufgelegt, Positionen korrigiert. Zuletzt in den 50er Jahren. Anhand von Markierungen in den Steinen können wir heute sicher sein:

Stonehenge hat wohl mal so ähnlich ausgesehen wie heute. Ganz sicher aber nie genau so.

Ob Stonehenge also mehr authentisches Denkmal oder Disneyland ist, darüber streiten sich heute die Expert*innen.

Dieses Phänomen der immer wieder „korrigierten“ Realität ist nicht nur auf historische Orte beschränkt.

Tatsächlich kennen wir es auch aus dem Design demokratischer Prozesse. Und ähnlich wie in der Historie ist es auch hier vielen Akteur*innen nicht bewusst. Worum geht es?

Um den weit verbreiteten Irrglauben, kommunale Bürgerbeteiligung würde kommunale Realität abbilden.

Fragt man Politiker*innen auf allen Ebenen, so bekommt man als ein Argument für Bürgerbeteiligung immer wieder zu hören, das würde die Politik näher an die Realität bringen. Man könne so erfahren, wie die Menschen denken, was sie umtreibt, was sie beschäftigt.

Das ist auch so. Aber das Bild, das sich so vermittelt, ähnelt dem Steinkreis von Stonehenge: Es hat etwas mit der Wirklichkeit zu tun, aber nur etwas.

Der Grund ist: Bürgerbeteiligung beteiligt nie „die“ Bürger*innen, sondern immer nur jene, die bereit sind, sich zu beteiligen.

Und das ist immer nur ein Ausschnitt. Gründe dafür gibt es gleich mehrere.

Zunächst kennen wir unterschiedliche Milieus. Und wir wissen heute genau, wie es in diesen Milieus mit der Beteiligungsbereitschaft aussieht. Stark vereinfacht gesagt:

Der pensionierte, männliche Studienrat ist in Beteiligungsprozessen um ein Vielfaches öfter vertreten als die alleinerziehende Migrantin.

Verschärfend kommt hinzu: Ersterer ist auch noch im Prozess um ein Vielfaches wirksamer, weil mit mehr Zeit, Bildung, rhetorischem Geschick, Kontakten und Selbstbewusstsein ausgestattet.

Manchmal wird versucht, solches Ungleichgewicht durch Losverfahren zu verhindern. Aber auch das funktioniert nur eingeschränkt. Denn ausgeloste Beteiligte müssen immer noch gefragt und für das Verfahren gewonnen werden.

Und da ist die positive Rückmeldequote bei den erwähnten Akademikern um ein Vielfaches höher als bei den so genannten „beteiligungsfernen“ Gruppen. Ein Blick auf die entsprechenden Daten der bislang durchgeführten großen Bürgerratsprojekte bestätigt die Schieflage.

Und was die Wirksamkeit in den Formaten angeht – die kann auch durch erstklassige Moderation nur schwer ausgeglichen werden.

Das Bild, das sich Politiker*innen von der Wirklichkeit ihrer Welt machen, wird zudem nicht nur von Beteiligungsprozessen und ihren Ergebnissen bestimmt, sondern auch von ihren Kolleg*innen, von ihren Parteimitgliedern, von Verbänden und Bürgerinitiativen, von den Medien und von ihrem privaten Umfeld.

Wer wohl in all diesen Kreisen überproportional vertreten ist? Sie können es sich vorstellen.

Dennoch ist Bürgerbeteiligung wichtig für die „Erdung von Politik“, ganz egal, ob Betroffenen- oder Zufallsbeteiligung. Wir dürfen nur eines nicht glauben: Dass die Summe dieser Bilder, die unsere Entscheider*innen so zu sehen bekommen, die Realität abbildet.

Es ist kein Disneyland, kein Potemkin’sches Dorf, in dem unsere Entscheider*innen leben. Aber ein Stonehenge ist es schon:

So ungefähr richtig, aber eben nicht ganz.

Und das kann eben bedeuten, dass Themen, Perspektiven, Nöte und Ängste von Teilen der Menschen nicht oder nur stark gefiltert in das Gesamtbild einfließen.

Gute Politiker*innen wissen das. Aber im Alltag wirkt diese Verzerrung trotzdem.

Bürgerbeteiligung kann hier tatsächlich helfen.

Aber sie ist kein Aggregator. Sie nimmt also nicht in einem Prozess alles auf und verdichtet es zu einem realistischen Bild.

Sie kann aber durchaus verschiedene Bilder malen. Deshalb kann es zum Beispiel sinnvoll sein, die geforderte „breite“ Beteiligung nicht in jedem einzelnen Event anzustreben.

Schon heute ist spezifische Jugendbeteiligung verbreitete Praxis. Diese muss aber längst nicht nur exklusiven Jugendthemen wie Skateparks (ein Klassiker) vorbehalten sein.

Auch zu ganz anderen Aspekten der Stadtplanung kann man junge Menschen in eigenen Formaten beteiligen. Und Migrant*innen, Transferleistungsempfänger*innen, körperlich beeinträchtigte Menschen, Senior*innen und …

Das muss nicht immer so sein, aber öfter.

Damit den vielen Bildern von vielen unterschiedlichen Wirklichkeiten auf dessen Basis sich Entscheider*innen ihre Bilder malen, manchmal auch noch ein weiteres Bild hinzugefügt wird.

Eines, das genauso eine Wirklichkeit abbildet. Nur eben eine andere. Eine, die ohne Beteiligung nicht sichtbar würde.

Beteiligung kann nicht alles leisten. Aber das kann sie. Und zwar gut.

Wenn man sie lässt.

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