#42 | Digital oder demokratisch?

Die Digitalisierung verändert unsere demokratische Kultur – und das nicht unbedingt zum Besseren.

Ausgabe #42 | 15. Oktober 2020

Digital oder demokratisch?

Im Science Fiction Klassiker „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams wird ein Computer namens Deep Thought von einer außerirdischen Kultur speziell dafür gebaut, die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich die „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ zu errechnen.

Er ist so leistungsfähig, dass er zum Zeitvertreib über die Vektoren sämtlicher Teilchen des Urknalls meditiert. Dennoch benötigt er 7,5 Millionen Jahre Rechenzeit, um seine Antwort zu ermitteln, und verkündet dann: 42.

Nicht gerade das, was die Auftraggeber sich versprochen haben.

Tatsächlich hat dieses Ergebnis aus dem Kultbuch einer ganzen Generation von Nerds sehr viel mit Bürgerbeteiligung zu tun.
Warum?

Weil es nach wie vor in unserem Land politisch Verantwortliche gibt, die einen ganz ähnlichen Blick auf Beteiligung haben:

Teuer, aufwändig, dauert ewig und das Ergebnis taugt nix.

Mit diesem Beispiel eröffnete ich vorgestern die Reihe von Vorträgen im Rahmen der Fachtagung „Demokratie 4.0“, zu der die Stiftung Zukunft Berlin und die Allianz Vielfältige Demokratie gemeinsam eingeladen hatten. Rund 150 Mitwirkende diskutierten 3 Stunden lang über die Einflüsse der Digitalisierung auf Demokratie und politische Teilhabe.

Die Beiträge und Ergebnisse werden in naher Zukunft online zur Verfügung stehen, viele Teilnehmer*innen regten aber an, meinen Einführungsbeitrag zeitnah zumindest in einer gekürzten Fassung hier im Newsletter zu dokumentieren. Das will ich gerne versuchen und hoffe sehr, dass unseren Leser*innen die Transformation von Vortrag zu Newsletter einen Mehrwert bietet.

Um diese beiden Dinge soll es also heute gehen: Um Digitalisierung und demokratische Teilhabe, um Mythen, Erwartungen und die richtigen Strategien.

Und die sind komplex. Auf jeden Fall deutlich komplexer als der von einer uns allen bekannten Partei kreierte Slogan „Digital first, Bedenken second“.

Tatsächlich wird in der Politik, besonders in der Wirtschaft, aber auch in vielen Medien, gerade auch befeuert durch die Corona-Pandemie, manchmal der Eindruck erweckt, alles Gute käme aus dem Digitalen. Für manche Akteure ist es beinahe eine Art Heilsversprechen.

Dabei ist Digitalisierung zunächst einmal nichts anderes als eine neue Qualität von Technik und eine neue Dimension von Produktivität. Das hatten wir in der Menschheitsgeschichte schon mehrfach. Es begann mit der Keule, dem Speer, dem Faustkeil. Nicht besonders schick, aber sehr hilfreich. Und tatsächlich brachte das eine völlig neue Gesellschaftsform hervor: Der Mensch wurde vom herumstreunenden Wildling zum sesshaften, siedlungsgründenden, sozialen Wesen. Ab da ging es, historisch betrachtet, immer rasanter weiter.

Die erste Massenproduktion durch Maschinen begann um 1800, heute nennen wir das Industrie 1.0. Die ersten Maschinen wurden wie z. B. die Webstühle noch durch menschliche Kraft betrieben.
Das änderte sich rasch. Bald kamen Dampfmaschinen zum Einsatz. Die Einführung der Elektrizität zum Ende des 19. Jahrhunderts war dann der Startschuss für die zweite industrielle Revolution (Industrie 2.0). Mit den ersten Automobilen ab dem frühen 20. Jahrhundert wurde die Arbeit in den Produktionshallen stetig weiter automatisiert. Die Fabrikhallen produzierten in Rekordzeit am Fließband und Motoren nahmen weitere Arbeit ab. Die dritte industrielle Revolution kündigte sich mit den ersten Computern an. Konrad Zuse entwickelte mit dem Z3 im Jahr 1941 den ersten funktionsfähigen Computer der Welt – er war programmgesteuert, frei programmierbar und vollautomatisch.

Aktuell befinden uns in der Mitte der vierten industriellen Revolution. Im Fokus stehen die zunehmende Digitalisierung früherer analoger Techniken und vor allem die Herrschaft über die Daten. Dabei sollten wir eines im Blick behalten: Treiber der Entwicklung war und ist immer die Ökonomie. Auch die Digitalisierung ist also erst einmal nichts anderes als eine je nach Zählung vierte, fünfte oder xte Revolution der Produktivkraft. Und jetzt geht es ans Eingemachte, denn in der gesellschaftlichen Debatte geht gerade eines völlig unter:

Immer, aber wirklich immer in der Geschichte blieb das nicht ohne gesellschaftliche Auswirkungen. Und die waren jedes Mal gewaltig.

Niemals in der Geschichte gab es dadurch eine gemütliche, positive, schrittweise, sozialverträgliche, evolutionäre Entwicklung von mehr Wohlstand, mehr Teilhabe, mehr heiler Welt für alle.

Die Folgen waren bei jedem einzelnen Produktivkraft-Upgrade früher oder später: Ein kompletter Umsturz von gesellschaftlichen Strukturen, politischen Systemen, Nationen und Kontinenten.

Die ersten Werkzeuge machten den Jäger und Sammler so produktiv, dass plötzlich das Individuum mehr erzeugen konnte, als es selbst benötigte. Das brachte zwei neue Strukturen hervor: Handel und Sklaven. Denn nur Menschen, die mehr produzieren können, als sie selbst verbrauchen, sind als Sklaven attraktiv.

Später ließ die Massenproduktion – noch in der Monarchie entstanden – ein nichtadeliges Bürgertum reich und mächtig werden. Es entstanden reiche Bürger. Und die forderten Beteiligung. Mit dem Angebot weitgehend wirkungsloser Beteiligungsformate (Damals hieß das Ständeversammlung) war es nicht getan. Die Monarchen wurden hinweggefegt, erste bürgerlich-demokratische Staaten entstanden.

Mit der Elektrifizierung und der Industrie 2.0 kam zum Bürgertum der Großkapitalist hinzu, mit dramatischen Spaltungen der Gesellschaft und in der Folge sozialistischen Revolutionen und Experimenten.

Die dritte industrielle Revolution, also die Automatisierung, machte es plötzlich möglich, nahezu überall in der Welt zu produzieren und ermöglichte so die Globalisierung. Statt Individuen sind es nun Konzerne, die Weltpolitik machen und ganze nationale Regierungen erpressen können.

Vor diesem Hintergrund wäre es vermessen zu glauben, ausgerechnet die vierte Revolution, also die völlige Digitalisierung, bliebe nun erstmals in der Geschichte ohne tiefgreifende gesellschaftliche Folgen.

Und diese Folgen sind per se nicht unbedingt positiv. Im Gegenteil: Die Digitalisierung an sich löst keines der Probleme unserer Zeit. So wie noch keine technologische Revolution zuvor die Probleme ihrer Zeit gelöst hat. Und das gilt natürlich auch für Fragen der Demokratie.

Wie stets zuvor in der Geschichte wirft die Entwicklung – diesmal also die Digitalisierung – alles durcheinander, zerstört soziale Strukturen, ja ganze Gesellschaften.

Sie ist dabei natürlich nicht die Wurzel des Übels, sondern der Katalysator der Prozesse. Eines aber ist sie nicht, wie es vor ihr keine ökonomische Innovation war: Ein automatischer Heilsbringer. Den per se funktionieren ausgerechnet viele naheliegende digitalgetriebene oder digitalisierbare Teilhabeideen nicht.

Direktdemokratische Abstimmungen sind digital hervorragend umsetzbar und eine beliebte Forderung auch der Digital Natives. Aber binäre Ja/Nein-Entscheidungen sind tendenziell eher spaltend als einend. Vor allem, wenn es an einer Diskurskultur mangelt.

Genau diese Diskurse, werden sie online geführt, neigen dazu, entweder nur wenige zu erreichen, in Lichtgeschwindigkeit zu eskalieren oder in kollektiver Selbstbestätigung Gleichdenkender zu versanden.

Tatsächlich ist Beteiligung dann besonders erfolgreich, wenn es zu einem persönlichen, direkten, intensiven Diskurs kommt, ob in Bürgerräten, Planungszellen oder anderen Formaten – übrigens auf allen politischen Ebenen.

Doch es muss nicht immer nur das eine ODER das andere sein.
Zunehmend gibt es Erfahrungen mit der Verschränkung beider Welten. Die Kombination off- und online ist komplex, zeigt aber durchaus Potential, wie wir heute noch mehrfach hören werden.

Dieses Zusammenspiel ist noch wenig systematisch erforscht, getrieben auch durch Corona experimentieren wir aktuell mit vielen Formaten. Es geht dabei um die zentrale Frage:

Wie kann das Digitale zum Diskurs beitragen?

Wie können wir es adaptieren, nutzen, gesellschaftlich bindungsstiftend und emanzipativ machen? Das ist nicht einfach. Analoge Diskurse durch Digitale zu ersetzen ist dabei nur eine Scheinlösung.

Ja, wir erreichen damit möglicherweise leichter neue Zielgruppen, wie junge, digitalaffine Menschen. Andere, wie zum Beispiel Ältere schließen wir aus. Bekannte Herausforderungen, wie die Überwindung von Sprach- oder Bildungsbarrieren, bewältigen wir digital kaum besser als analog. Aktuell müssen wir konstatieren: Die Digitalisierung findet statt. Und zwar weitgehend jenseits einer gesellschaftlichen Steuerung. Ja mehr noch: Unsere demokratischen Strukturen befinden sich überwiegend noch im analogen Zeitalter.

Das, was diese ungesteuerte Digitalisierung von alleine zur Demokratie beiträgt, ist zumindest fragwürdig, oft sogar schädlich. Wir müssen erkennen: Wenn wir die Demokratie an die Digitalisierung delegieren, bekommen wir wie Deep Thought bestenfalls Ergebnisse, die nichts taugen, schlimmstenfalls eine weitere Erosion unserer Demokratie.

Es kann deshalb nicht darum gehen, die Digitalisierung zu ignorieren oder gar zu bekämpfen. Es geht darum, den demokratischen Diskurs der Menschen zu fördern, die demokratische Lufthoheit über das Digitale herzustellen.

Das ist weit mehr als nur ein bisschen mehr digitale Beteiligungsformate. Das Digitale nur als Beteiligungstool zu betrachten, wird weder den Risiken noch den Potentialen gerecht. Wenn wir also über Potentiale digitaler Beteiligung sprechen, sollten wir bei allen Erwartungen, bei allen Bedenken, immer unsere gemeinsame Verantwortung vor Augen haben:

Die Zukunft ist, ohne Zweifel, eine digitale Zukunft.

Es liegt an uns, das Digitale so zu nutzen, dass diese Zukunft auch eine demokratische Zukunft ist.

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