#151 | Diktatur der Algorithmen

Die Digitalisierung findet statt. Mit oder ohne Demokratie. Wenn wir wollen, dass auch in Zukunft Demokratie stattfindet, dann müssen wir sie gestalten.

Ausgabe #151 | 24. November 2022

Diktatur der Algorithmen

Mary McIntyre aus England ist Astronomin. Und seit 2009 Twitter-Userin.

Bis zum 13. August 2021. Denn dann schlugen die Algorithmen bei Twitter an. Sie wurde gesperrt – weil sie ein Video mit „intimen“ Inhalten veröffentlicht hatte. Und das „ohne Einverständnis eines Beteiligten.“

Und tatsächlich war das nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Beteiligte hatte sein Einverständnis sicher nicht erteilt: Es war ein Meteor aus dem Perseiden-Schwarm.

Die Astronomin hatte schlicht ein astronomisches Video von ein paar Sekunden geteilt. Und da die Twitter-Algorithmen irgendwie nicht zwischen Perseiden und Porno unterscheiden konnten, schlugen sie zu.

Weil Mary McIntyre sich weigerte, das Video zu löschen, wurde sie für drei Monate gesperrt. Ihr Versuch, das irgendwie mit einem Menschen bei Twitter zu klären, scheiterte.

Niemals wechselte auch nur ein Mensch des Anbieters ein Wort mit ihr – auch nicht als die BBC über den Fall berichtete.

Plötzlich war ihr Account wieder entsperrt. Eine Erklärung für den Vorfall hat sie bis heute nicht erhalten.

Ein Vorgeschmack auf eine Welt, in der Diskurse von Künstlicher „Intelligenz“ moderiert werden. Während massenhaft Verschwörungsschwurbeleien und Hassnachrichten über den Ticker gehen, werden harmlose Nachrichten ausgefiltert – und deren Absender gleich mit.

Zur Wahrheit gehört natürlich auch: Tag für Tag greifen die Algorithmen von Twitter & Co. zu Recht ein.

Bedenklich aber bleibt die Tatsache, dass quasi alle Online-Plattformen, auf denen demokratische Debatten stattfinden, von unbekannten Algorithmen gesteuert werden.

Elon Musk hat nach seiner Übernahme von Twitter nun auch erstmals die Community darüber abstimmen lassen, ob Donald Trump wieder Zugang zur Plattform haben soll.

Welche User aber von dieser Abstimmung wann wie erfahren haben – auch das haben Twitters Algorithmen gesteuert, ebenso wie die Debatte dazu.

Sind wir also auf dem Weg in eine algorithmische Demokratie? Oder erwartet uns gar eine Diktatur der Algorithmen?

Die Debatte darüber prägte auch den D³ Kongress #deutschland #digital #demokratisch, der die vergangenen beiden Tage stattfand. Angemeldet hatten sich knapp 1.200 Teilnehmende.

In 70 Workshops diskutierten sie über zahlreiche Fragen der Demokratie in einer digital geprägten Welt.

Die Debatten waren ebenso bunt wie die Erfahrungen der Teilnehmenden. Die Ergebnisse des Kongresses auszuwerten, wird einige Zeit dauern.

Ich hatte die Gelegenheit, im Rahmen eines Inputs 10 Thesen zur digitalen Demokratie vorzustellen. Sie sind kein Fazit, sondern eher eine Anregung zur Debatte. Und da auch dieser Newsletter einen ähnlichen Anspruch hat, mag ich Sie ihnen kurz und kompakt vorstellen – denn Ihre Meinung dazu interessiert mich sehr:

1: Die Demokratie wird digitaler

Der Satz klingt harmlos. Ist es aber nicht. Weil es alle Bereiche der Demokratie sind, die davon durchdrungen sind. Parteien, Parlamente, Politiker*innen, Medien, Wähler*innen, Bürgerbeteiligung, Campaigning, Stategieentwicklung, Wahlkämpfe: Alles wird digitaler. Dadurch ändern sich Prozesse, Wechselwirkungen, Einflussgruppen und Rituale.
Dazu kommen gänzlich neue Player: Künstliche Intelligenzen und Algorithmen entwickeln sich von Hilfsmitteln hin zu eigenständigen Akteuren. Demokratie im digitalen Zeitalter ist in allen Bereichen anders als im vordigitalen Zeitalter.

2: Digitalisierung ist keine Demokratisierung

Tatsächlich befördert keine einzige dieser Veränderungen per se die Demokratisierung. Digitalisierung manifestiert Disparitäten. Macht, Geld, Einfluss: All das sind auch Mechanismen im digitalen Raum. Und dort oft noch radikaler und wirksamer. Moderne populistische Parteien bespielen dieses Setting oft ganz ausgezeichnet. Tatsächlich ist auch im digitalen Raum Demokratisierung möglich. Von allein aber passiert sie nicht.

3: Nichts wird durch Digitalisierung besser

Schlechte Prozesse zu digitalisieren, führt zu schlechten digitalen Prozessen. Das gilt auch für Prozesse der digitalen Teilhabe: Wenn sie durch Digitalisierung besser werden, dann nicht durch Digitalisierung, sondern durch Optimierungsprozesse im Kontext der Digitalisierung. Was aktuell besser wird in unserer Demokratie ist vieles, aber keine kausale Folge der Digitalisierung.

4: Digitalisierung ist ein Katalysator für Defizite

Im Gegenteil: Digitalisierung ist sehr gut darin, schlechte Prozesse, mit denen wir uns im analogen Raum durchwurschteln, im digitalen Raum komplett crashen zu lassen. Weil spontane Lösungspfade „out of the box” in der digital definierten Box nicht vorgesehen sind. Weil Empörung im digitalen Raum vergleichsweise in Lichtgeschwindigkeit eskalieren kann. Weil im digitalen Raum noch weniger Vertrauen regiert als im analogen Miteinander.

5: Digitalisierung ist ein De-Organizer

Wir kennen die schönen Geschichten aus Hongkong, aus dem Iran und von anderen Freiheitsbewegungen: Demokrat*innen vernetzen sich digital und koordinieren so den Widerstand. Diese Geschichten stimmen. Aber sie sind nur die halbe Wahrheit. Digitalisierung ist auch Überwachungs-, Manipulations- und Unterdrückungstool. Dazu kommt: Digitale Freizeit und Arbeit individualisiert.

6: Digitalisierung macht Demokratie schneller

Ob Shitstorm auf Twitter, Echtzeit-Meinungsumfragen oder spontane Kampagnen von Parteien und Stakeholdern, ob politische Debatten online oder die spontane Einberufung einer Videokonferenz: Digitalisierung beschleunigt demokratische Prozesse, teilweise um ein Vielfaches. Das kann vorteilhaft sein, muss es aber nicht. Denn tatsächlich war eine große Stärke von Demokratien immer auch deren Trägheit. Große Richtungswechsel waren immer ein Ergebnis zäher Aushandlungsprozesse. Schnelle Richtungswechsel sorgen für höhere Fliehkräfte an den Rändern und tiefere Risse in der Mitte. Was wir aktuell gut beobachten können.

7: Digitalisierung macht Demokratie permanenter

Demokratische Prozesse finden heute 24 Stunden am Tag statt. Twitter schläft nicht, die Trolle tun es auch nicht. In allen aktuellen Debatten und zu beliebigen Themen kann man sich irgendwie irgendwo immer einmischen. Ich kann beim Frühstück einen Antrag zur nächsten Parteikonferenz einreichen, in der Mittagspause einen Kommentar zur kommunalen Verkehrsplanung abgeben, mich vom Zug aus mit anderen auf Twitter streiten und abends von der Couch aus an einem Treffen meiner Bürgerinitiative teilnehmen. Und habe noch Zeit für einen Netflix-Film. Die Herausforderung lautet: Wenn immer irgendwie politisch gewirkt werden kann, kann ich mir auch kaum eine Pause leisten, ohne Einfluss zu verlieren.

8: Digitalisierung macht Demokratie subjektiver

Diese vielen, permanenten Kanäle haben noch einen weiteren Effekt.
Während die analoge parteienfixierte Demokratie der Vergangenheit einen hohen organisierenden und verbindenden Effekt hatte, erlebt heute jede und jeder seine eigene individuelle Demokratie. Viel öfter allein, in der individuellen bunten Mischung aus Information, Diskussion, Meinungsäußerung und -bildung. Das kann Formen der Selbstradikalisierung befördern. Was es auf der Langstrecke anrichtet, wissen wir nicht.

9: Digitalisierung macht Demokratie transparenter

Ob bewusstes Open Government oder aufgedeckte Skandale durch Whistleblower und Journalist*innen: Viel mehr Menschen haben heute Zugang zu viel mehr Fakten. Die Nebenwirkung: „Die werden schon wissen, was sie tun“, ist kein Satz, der heute noch funktioniert. Digitalisierung zwingt zu faktenbasierter Argumentation. Der Druck ist so groß, dass viele, die die passenden Fakten nicht präsentieren können, sich eigene alternative Fakten basteln. So sorgt die Transparenz der Digitalisierung für neue Risiken – die wir nicht unterschätzen dürfen.

10: Digitalisierung macht Demokratie vielfältiger

In der Summe verändert die Digitalisierung die Demokratie also weit umfangreicher und tiefgreifender als auf den ersten Blick erkennbar.
Sie macht sie schneller, individueller und dadurch vielfältiger. Sie macht es unmöglich, bloß eine repräsentative Demokratie zu denken, deren wichtigste Funktion eine Wahlbestätigung der Repräsentant*innen in großen Zeiträumen ist. Sie wird und muss auch dazwischen stattfinden. Dazu braucht es Angebote. Ob Bürgerbeteiligung oder direktdemokratische Entscheidungen. Impulse dafür liefert die Digitalisierung genug – und wir stehen da erst am Anfang.

Wir sehen also: Demokratie digital zu denken, heißt sie anders zu denken. Und zwar schon heute.

Denn die Digitalisierung findet statt. Mit oder ohne Demokratie.

Wenn wir also wollen, dass auch in Zukunft Demokratie stattfindet, dann müssen wir sie gestalten.

Die Digitalisierung wird es nicht für uns tun.

Das müssen wir schon selbst in die Hand nehmen.

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1 Kommentar
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Sonja Schmid
24. November 2022 15:36

Es ist doch unglaublich, dass sich die Politik und die Medien – und damit viele Menschen – darüber ereifern, wenn China sich an einem Hafenterminal beteiligen will, an dem es sehr viele Waren umschlägt. Dass aber ein einzelner Amerikaner sich eine Plattform wie Twitter einfach so kaufen kann, das wird hingenommen.

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