#122 | Hauptsache, es funktioniert?

Unser Staat muss verlässlich funktionieren. Aber was, wenn die Demokratie dabei stört?

Ausgabe #122 | 5. Mai 2022

Hauptsache, es funktioniert?

Vergangene Woche war ich zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie wieder in einem Kino. Nicht als Zuschauer. Als Programm.

Gezeigt wurde „Atomkraft forever“. Ein empfehlenswerter Film. Die unaufgeregte Reportage befasst sich 90 Minuten lang mit der Frage „Wohin mit dem strahlenden Müll?“.

Rasch wird deutlich, dass sich wohl keine Region in Deutschland finden wird, die sich freiwillig als Standort für ein Lager voller Millionen Jahre strahlendem Atommüll anbietet.

Der Film arbeitet eindrucksvoll heraus, dass sich diese Suche nur als konsequent partizipativer Prozess denken lässt – und auch dann gibt es keine Garantie auf Erfolg.

Vor Jahren war es mir gelungen, in der Endlagerkommission des Deutschen Bundestages genau diesen partizipativen Prozess gegen Widerstände durchzusetzen. Es war mir also ein großes Vergnügen, im Anschluss als Gast mit dem Publikum diskutieren zu dürfen.

Schnell kreiste die Diskussion um sehr grundsätzliche ethische Fragen, um Generationengerechtigkeit, um Vertrauen in staatliches Handeln – und Zutrauen in Beteiligungsprozesse.

Es gab viele Sichtweisen im Publikum. Nicht zu allen Fragen waren wir uns immer einig. Die Mehrheiten wechselten. Doch dann meldete sich ein bis dahin recht stiller junger Mann, der allein in einer Reihe saß.

Sein erster Satz lautete: „Demokratie wird überbewertet.“ Die spontanen Reaktionen aus dem Publikum zeigten: Mit der These war er an diesem Abend eher nicht mehrheitsfähig. Doch genau darum geht es in Debatten: sich nicht gegenseitig zu bestätigen, sondern herauszufordern. Also bat ich ihn, uns seine Einschätzung näher zu erläutern.

Die Kurzfassung lautete: Der Staat muss funktionieren. Er muss uns beschützen, Konflikte regeln, Probleme lösen. Wenn er das kann, ist alles gut. Kann er es nicht, muss sich etwas ändern. Wenn er aber ein Problem nicht gelöst bekommt, weil zu viel Demokratie im Wege steht, ist das problematisch. Denn Demokratie kostet Geld, dauert lange und bietet keine Garantie auf die bestmöglichen Ergebnisse.

Das kann man so sehen.

Und im Grunde stimmen auch die Beobachtungen des jungen Mannes, zumindest überwiegend. Nur ist sein Ansatz ein gefährlicher.

Seine Beziehung zur Demokratie ist eine technische, ja sogar weitgehend entfremdete – was in der Beziehung zwischen Mensch und Technik ja nicht selten ist.

Dahinter steckt die Idee vom Staat als Servicetool zur Lebenserleichterung.

Und die ist nicht neu. Im Grunde hatten wir sie schon in Zeiten der alten athenischen Demokratie.

Schon der gute alte Platon argumentierte ähnlich. Bei ihm war die Demokratie die zweitschlechteste aller Gesellschaftsformen, im Grunde nur noch einen Schritt von der Tyrannei entfernt.

Die höchste, beste Staatsform war für ihn die Philosophenherrschaft (dicht gefolgt von Monarchie und Aristokratie). Warum?

Weil sie in seiner Wahrnehmung am besten funktionierte.

Für Platon war jene Staatsform am ehesten anzustreben, die mit dem geringsten Aufwand die aktuellen Probleme und Herausforderungen am besten lösen konnte.

Und aus seiner Sicht war die Konsequenz logisch: Die Expertokratie trifft Entscheidungen auf Basis von Wissen und Erfahrung, ohne unnütze Wahlen, Debatten, Abwägungen mit Unbeteiligten und/oder Unwissenden. Und wenn das nicht geht, dann werden in einer Monarchie wenigstens von einem Einzigen zügig Entscheidungen getroffen.

Ob der alte Platon oder fast zweieinhalb Jahrtausende später der junge Mann in unserem kleinen Kino: Beide haben Recht.

Für den Moment.

Genau das ist der Denkfehler. Er entsteht, wenn man Gesellschaften als Momentaufnahme sieht. Sieht man den Staat als statische Struktur, die ein tagesaktuelles Problem nach dem anderen lösen muss, könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, Expert*innen und/oder Autoritäten sollten diese Probleme für uns so still und effizient wie möglich aus der Welt schaffen.

Das kann kurzfristig funktionieren, aber: Es funktioniert nicht lange.

Denn Gesellschaften sind nicht statisch. Sie müssen sich verändern, so wie sich unsere technischen und ökonomischen Grundlagen verändern.

Gerade die Sache mit dem Atommüll hat gezeigt, dass ein System, welches immer nur die Probleme von heute anfasst, damit langfristig neue, immer gewaltigere schafft. Was uns für ein bis zwei Generationen vermeintlich billige Energie lieferte, wird noch zigtausende von Generationen mit den Hinterlassenschaften belasten.

Ähnlich ist es beim Klimawandel. Er vVor allem er sorgt dafür, dass wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften in den kommenden Jahren grundlegend hinterfragen und ändern müssen. Das wird zu gewaltigen Veränderungen in unserer Gesellschaft führen.

Und genau dafür gibt es die Demokratie.

Denn diese Veränderungen werden möglicherweise von Expert*innen klug ausgetüftelt, aber sie müssen vom größten Teil der davon Betroffenen mitgetragen und -gestaltet werden.

Das haben auch diejenigen begriffen, die in Deutschland die Endlagersuche organisieren. Vermutlich könnte ein halbes Dutzend unserer besten Geolog*innen und Physiker*innen den bestmöglichen Standort finden. Doch wenn deren Entscheidung nicht akzeptiert wird, schlittern wir erneut in bürgerkriegsähnliche Zustände wie damals in Gorleben.

Das Gesellschaftsmodell, welches langfristige, tiefgreifende Veränderungen am ehesten sozialverträglich gestalten kann, ist: die Demokratie.

Denn sie gestaltet die gemeinsame Reise der vielen.

Das macht sie teuer, träge, anstrengend, frustrierend, fehlerreich und beindruckend ineffizient.

Und auf der Langstrecke so erfolgreich.

Es sind genau diese Lästigkeiten, die Demokratie ausmachen. Sie gehören nicht nur dazu. Sie sind das Wesen von demokratischen Diskursen.

Und wenn das nicht ausreicht? Wenn die Debatten zu lange dauern? Wenn die Prozesse nicht schnell genug laufen? Wenn zu viele Menschen aussteigen, nach „Experten“, „Führern“ oder anderen Autoritäten rufen?

Dann zeigt uns das vor allem eines: Wir praktizieren zu wenig Demokratie, nicht zu viel.

Angesichts der kommenden Herausforderungen und dem Veränderungsdruck, den wir spüren, ist die Sehnsucht nach dem „funktionierenden Staat“, der alles für uns regelt, verständlich.

Aber nicht hilfreich.

Das, was auf uns zukommt, ist gewaltig. Viel zu gewaltig, als dass wir es Autoritäten überlassen sollten.

Oder dürften.

Oder könnten.

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