#71 | Gute Verlierer

In einer Demokratie geht es darum, Mehrheiten zu gewinnen. Entscheidend für ihre Stärke sind aber die Verlierer.

Ausgabe #71 | 13. Mai 2021

Gute Verlierer

Es ist nicht nur ein legitimes Recht in jeder Demokratie, um Mehrheiten zu ringen. Es ist ihre Basis. Wer die Mehrheit hat, gewinnt. Und darum geht es.
Natürlich sind die Methoden unterschiedlich. Im Idealfall geht es um wertschätzenden Diskurs, oft eher um Überreden als um Überzeugen, manchmal bleibt auch die Wahrheit auf der Strecke, manchmal wird es gar korrupt.

Im Ergebnis generieren wir nicht mit jedem demokratisch legitimierten Beschluss Gemeinwohl. Was wir aber mit jedem Mehrheitsbeschluss produzieren, sind:

Verlierer*innen.

Und genau darum soll es heute gehen. Um ein Loblied auf die Verlierer*innen. Denn sie sind so ungeheuer wichtig für eine starke Demokratie. Wir alle kennen in unserem Freundeskreis schlechte Verlierer*innen. Nicht jede*r fegt nach einer vergeigten Partie Schach gleich alle Figuren vom Brett und stürzt sich mit hassverzerrtem Gesicht auf sein oder ihr Gegenüber, aber allzu oft lassen sich diese Verlierer*innen schlicht auf keine weiteren Spiele ein.

Verlieren macht keinen Spaß. Wenn man vorhersehen kann, dass man keine Chance hat, auch einmal zu gewinnen, gibt es keinen Anreiz mitzuspielen.

Deshalb beruht die Resilienz einer Demokratie in entscheidendem Maße auf der Frage, wie sie mit Verlier*innen umgeht – und wie die Verlierer*innen mit ihr umgehen.

Denn so wichtig Mehrheiten für die gesellschaftliche Gestaltung sind, so wichtig ist es, dass die jeweiligen Verlierer*innen auch weiter mitspielen.

Denn zum Grundvertrag jeder Demokratie geht ein Versprechen an die Verlierer*innen: Sie dürfen die Hoffnung hegen – und sich auch weiter dafür engagieren – irgendwann in der Zukunft eine Mehrheit für ihre Meinung gewinnen zu können. Vielleicht schon bei der nächsten Abstimmung, eventuell bei der nächsten Wahl. Möglicherweise beim selben Thema – oder einem anderen. Wer heute unterlegen ist, kann morgen in der Mehrheit sein. Diese Volatilität der Demokratie ist ihre Stärke. Eben das Fehlen einer dauerhaften Mehrheit macht sie widerstandsfähig und für die breite Masse attraktiv.

Eine Demokratie, in der leicht und stabil immer wieder dieselben Mehrheiten zustande kommen, mag erstrebenswert erscheinen – doch das ist sie nicht, denn stabile Mehrheiten produzieren stabile Minderheiten – und bei diesen kein Motiv, weiter auf die Demokratie zu vertrauen.

Konflikte sind also im Grunde das Immunsystem einer Demokratie. Und wie für unser körpereigenes Immunsystem gilt: Wird es nicht gefordert, verkümmert es. Und dann wird es gefährlich.

Hier kommt nun eine Entwicklung ins Spiel, die sich angesichts einer ganz anderen Herausforderung für unser Immunsystem aktuell sehr deutlich manifestiert.

Für einen nicht unerheblichen Teil unserer Bevölkerung scheinen viele der durch die Corona Pandemie erzwungenen Maßnahmen unerträglich geworden zu sein.

Selbst das Tragen von Schutzmasken, nicht nur demokratisch legitimiert, sondern auch wissenschaftlich gut begründet, ist für Einige völlig inakzeptabel. Sie können diesen Zwang nicht ertragen.

Doch auch wenn es sich in der Pandemie besonders dramatisch manifestiert: Zugrunde liegt eine Entwicklung, die wir schon länger beobachten.

Die Menschen können immer weniger verlieren.

Die Frustrationstoleranz bei Kindern ist dramatisch abgesackt, wie einem jede*r Lehrer*in bestätigen kann. Doch auch immer weniger Erwachsene sind fähig, Situationen zu ertragen, die sie einschränken.

Wir leben in einer digital forcierten Welt der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Nicht nur das „ICH“ ist wichtiger geworden, sondern auch das „SOFORT“.

Mehrheitsentscheidungen werden immer öfter von immer mehr Menschen nicht mehr akzeptiert. Immer öfter muss der Rechtsstaat Konflikte entscheiden, die demokratisch nicht beigelegt werden können.

Selbst nach gelungenen Beteiligungsprozessen droht noch eine Klage der Unterlegenen – oder jener, die sich gar nicht erst auf den Diskurs eingelassen haben.

Was lernen wir daraus?

Wenn gerade überall über die nötige Stärkung, gar Rettung der Demokratie diskutiert wird, geht es oft um Aufklärung und Bildung. Das ist gut. Es ist aber nicht entscheidend.

Zentral ist die Frage, wie unsere Demokratie mit Verlierer*innen umgeht, welche Angebote sie ihnen macht, wie sie ihnen glaubhaft vermitteln kann, dass auch für sie dauerhaft eine demokratische Wirksamkeit möglich ist.

Wir müssen alle wieder mehr zu guten Verlierer*innen werden. Doch die Verantwortung dafür können wir eben nicht nur den Verlierer*innen zuschieben. Denn wer gute Verlierer*innen will, der braucht auch gute, verantwortungsvolle, wertschätzende Gewinner*innen.

Und es braucht eine Gesellschaft, die Verlierer*innen nicht zu Idiot*innen abstempelt, sondern ihren Wert für eine lebendige Demokratie erkennt. Gute Verlierer*innen sind jene, die weiter im Spiel bleiben.

Egal wie laut oder lästig sie sind. Wir müssen ihnen dankbar sein.

Über einen anderen Umgang mit Gewinner*innen und Verlierer*innen wollen wir in der kommenden Woche sprechen.

Wir betrachten eine der vielen neuen Kleinstparteien, die sich im Querdenker-Milieu gerade entwickeln: Die Basis. Es geht dabei weniger um verquaste Programmatik oder dubiose Führungsfiguren – Beides gibt es auch dort.

Wir betrachten ein interessantes Modell, das diese Partei praktiziert, um die Zahl der Verlierer*innen (und deren Frustration) in der internen Meinungsbildung erheblich zu reduzieren. Ein Modell, das tatsächlich einen gewissen Charme besitzt …

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5 Kommentare
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Johannes Fielmann
13. Mai 2021 11:37

Wir sind alle von Natur aus eher schlechte Verlierer. Verlieren Können muss man lernen, ebenso wie das Aushalten von Frustration. Da werden die Wichen schon im Elternhaus gestellt (oder eben nicht). Auf gesellschaftlicher Ebene ist es wichtig, dass wir Verlierer eben nicht als verloren ansehen, da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Sommer. Wir sollten deshalb auch Querdenker nicht als Idioten abstempeln. Sonst verlieren wir sie für die Demokratie.

G. Hertner
13. Mai 2021 12:09
Antwort auf  Johannes Fielmann

Ich glaube, die meisten davon haben wir längst verloren!

M. Schleith
14. Mai 2021 19:37
Antwort auf  G. Hertner

Kommt drauf an, welche Querdenker er meint?! Das Wort selbst war ja nicht immer negativ besetzt.

C. Mann
19. Mai 2021 18:41

Wieder einmal hat Jörg Sommer einen wichtigen Aspekt der Bürgerbeteiligung auf den Punkt gebracht: Demokratie funktioniert nur mit Menschen, die auch verlieren können, ohne gleich das ganze System zu verdammen.
Dazu eine historische Anmerkung: In der Demokratie des antiken Athen stimmten die Bürger per Handheben ab – Verlierer bei der Abstimmung waren folglich für die Umstehenden klar zu erkennen. Der Bereitschaft zur politischen Partizipation schadete das nicht, die athenischen Bürger strömten immer wieder zu Tausenden zu den Volksversammlungen – in dieser Hinsicht waren sie gute Verlierer. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass sportlicher Wettkampf im antiken Griechenland eine überragende Bedeutung besaß; denn beim Sport kann man das „Verlierenkönnen“ lernen. Es ist die These aufgestellt worden, dass die soziale Funktion des Sports im antiken Griechenland eben darin bestand, gute Verlierer zu produzieren. So weit muss man nicht gehen, aber ohne Zweifel war die Fähigkeit zum Verlierenkönnen durch den sportlichen Wettkampf trainiert worden.

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