#40 | Der Diskurs-Limbo

Sind wir alle auf Weg, kleine Trumps zu werden? Gleich drei Gründe sprechen dafür.

Ausgabe #40 | 1. Oktober 2020

Der Diskurs-Limbo

Es war ein historischer Moment. Später werde ich meinen Enkeln einmal erzählen können: „Opa war dabei!“. Unter dem Strich war das natürlich kein Verdienst, sondern Zufall, vor allem aber: eine traumatische Erfahrung.

Ich spreche von der TV-Debatte zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und Joe Biden am vergangenen Dienstag. So wie knapp 30 Millionen US-Bürger*innen und viele politisch Interessierte im Ausland habe ich die Debatte live verfolgt. Ich konnte mich erst einige Minuten nach Beginn zuschalten und zögerte kurz: Die Gesichter kannte ich, aber was da ablief, hatte den Charakter einer Ouvertüre zu einer Schulhofschlägerei.

Die Debatte wurde in den Medien bereits ausführlich analysiert, ich will die Inhalte hier nicht wiedergeben, um Inhalte ging es ja ohnehin nicht. Interessante Analysen lieferten z. B. SPIEGEL, FAZ, Washington Post.

Was hier zwei gestandene Politiker – einflussreich, wohlhabend, Führungspersönlichkeiten eines sich als Elite begreifenden Landes – vorführten, war die völlige Zerstörung eines Diskurses, ohne dass einer der professionellsten amerikanischen Politikjournalisten dem irgendetwas entgegensetzen konnte.

Falls wir glaubten, die Stange im öffentlichen Diskurs-Limbo läge schon tief genug, so wurden wir eines Besseren belehrt: Sie ist nun nahezu auf Bodenhöhe angekommen. Zum Glück schien keiner der beiden Kontrahenten von seinem Recht gemäß zweitem Zusatzartikel der US-Verfassung Gebrauch gemacht und eine Waffe in der Tasche gehabt zu haben. Der Moderator sah jedenfalls über weite Strecken des Abends so aus, als würde er sich wünschen, er hätte eine zur Verfügung.

Nun können wir uns wahlweise über die Zustände in der amerikanischen Politik wundern oder amüsieren. Wir können aber auch darüber nachdenken, warum diese Debatte am Ende wohl für beide Kontrahenten, vermutlich sogar für den Wahlausgang, weitgehend folgenlos bleibt. Denn alle hochkarätigen Kommentator*innen sind sich einig: Trump wird das bei seinen eigenen Stammwähler*innen kaum eine Stimme kosten.

Und genau das ist das Thema, über das wir sprechen sollten.

Offensichtlich wird ein derartiger Nichtdiskurs von vielen Menschen nicht als Problem gesehen. Tatsächlich ist er zunehmend Teil der Alltagserfahrung in Zeiten der social bubbles.

Dies war an jenem Abend sehr schön bei Donald Trump zu beobachten. Natürlich war Randale seine Strategie, angesichts der Faktenlage hätte er auch bei kaum einem Thema inhaltlich punkten können. Es war aber offensichtlich, dass er schon nach wenigen Minuten innerlich kochte, den Widerspruch seines Kontrahenten als Majestätsbeleidigung auffasste und schlicht völlig überfordert damit war, auch nur einem einzigen Satz, der nicht seine Meinung wiedergab, bis zum Ende zuzuhören. Es ist klar, Trump lebt in seiner eigenen sozialen Blase im Weißen Haus. Dort ist, nach unzähligen Rücktritten und Entlassungen, niemand mehr, der auch nur ein „Ja, aber…“ in seiner Gegenwart äußern würde. Das ist eine bei Machthaber*innen seines Charakters durchaus übliche Entwicklung und schon seit Jahrhunderten typisch.

Neu ist, dass der Aufenthalt in einer vergleichbaren Blase nun gewissermaßen „demokratisiert“ wurde, also auch vielen einfachen Bürger*innen zur Verfügung steht.

Und das ist den meisten Betroffenen nicht einmal bewusst.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein ganz zentraler ist: Wir sind alle Opfer der (a)sozialen Medien und der aktuellen Informationskultur, die im Übrigen durch die aktuelle Corona-Pandemie noch einmal deutlich verschärft wurde. Letztlich erleben wir eine verheerende Kombination aus drei Entwicklungen

  1. Die Algorithmenpolitik von Facebook, Google & Co
  2. Die neue Pull-Kultur in der Medien-Rezeption
  3. Die „Politiklosigkeit“ in unseren Alltagsbiografien

Fangen wir mit dem letzten Punkt der Liste an: Der Lockdown hat es forciert, weil er uns viele soziale Kontakte in unserer Freizeit genommen hat, aber schon zuvor war die Biografie vieler Menschen in Deutschland von Diskursferne und Politiklosigkeit geprägt. Wer sich nicht (partei-)politisch engagiert, erfährt in seinem Leben nur wenige, punktuelle demokratische Interaktionen. In der Schule ist Politik unerwünscht, Streit- oder Diskurskultur wird kaum praktiziert. Austausch auf Augenhöhe ist nur möglich, wenn einzelne Lehrkräfte dies forcieren (und diese sind die Ausnahme). Gelehrt wird Demokratie schon gar nicht. Für die meisten jungen Menschen heißt das: Demokratieerfahrung bis zum Schulabschluss: Null. In der Berufsausbildung sieht es nicht besser aus, in der Arbeitswelt herrschen bei uns weit überwiegend klare hierarchische Verhältnisse. Es bleiben politische Wahlen in großen Abständen für die Allermeisten; für viele mangels Interesse und/oder Kompetenz nicht einmal das. Ganz wenigen ist politisches Engagement möglich. In der Summe lautet die nackte Wahrheit jedoch: Politische Diskussionen insb. mit Andersdenkenden, Argumentieren, Diskutieren, demokratischer Streit kommt im Lebenslauf vieler Bürger*innen nur in homöopathischen Dosen vor.

Parallel dazu erleben wir eine durch die digitale Entwicklung getriebene neue Medienrezeption: Früher sah man die Tagesschau, hatte vielleicht eine Zeitung abonniert und war so von mehr oder weniger neutralem Journalismus abhängig. Wenn man sich über einen Kommentar in seiner Zeitung ärgerte, kündigte man nicht gleich das Abo. In den vergangen Jahren sind nun zwei wesentliche Dinge geschehen: Einerseits gibt es im Web unzählige neue, „alternative“ Informationsquellen, mit allzu oft auch „alternativen“ Wahrheiten. Das Agitprop-Portal der russischen Regierung RussiaToday erreicht weltweit 700 Millionen Menschen in über 100 Ländern, der Youtuber KenFm knallt absurdes Verschwörungsgeblubber Tag für Tag an Hunderttausende in Deutschland. Andererseits kann ich sogar bei den klassischen Medien jederzeit ausblenden, was mir nicht gefällt. Heute kann ich in fünf Minuten SPIEGEL, FAZ, WELT, SÜDDEUTSCHE und die ZEIT scannen. Lesen werde ich nur, was mich interessiert.

Und es ist völlig normal, dass mich insbesondere interessiert, was meine Weltsicht zumindest rezipiert, am besten bestätigt. Diese Pull-Kultur, verbunden mit einem Überangebot an Informationen und vermeintlichen „Wahrheiten“, bietet für jeden das, was ihm zusagt – und das hat gleich zwei verheerende Folgen:

Zum Einen werden meine Meinungen und Grundeinstellungen immer wieder bestätigt und dadurch gefestigt, egal wie realitätsnah oder -fern sie sind. Zum Anderen verliere ich die Resilienz im Umgang mit anderen Meinungen oder unbequemen Fakten. Ich gelange in den Elfenbeinturm der Selbstbestätigung, der in vordigitaler Zeit nur den Mächtigen vorbehalten war.

Kommen wir zum ersten Punkt unserer Liste: die „Leistung“ von Facebook, Google und Co. Faktisch alle relevanten sozialen Medien nutzen Algorithmen, die genau dem oben beschriebenen Trend bewusst entsprechen. Sie sorgen nicht nur dafür, dass wir im World Wide Web unsere Freunde finden, sondern dass wir auch überwiegend Kontakte und Posts angezeigt bekommen, die unseren Vorlieben entsprechen. Wenn wir auf Facebook gehen, Instagram aufrufen oder auch nur bei Google etwas suchen, dann glauben wir, wir haben Anschluss an die große, weite, echte Welt da draußen.

Haben wir nicht.

Wir bekommen die Rosa-Einhorn-Variante geliefert, unsere ganz eigene „reale Welt“.

Diese drei Entwicklungen sind es, die uns alle potentiell zu kleinen Trumps werden lassen, die dann – wenn sie plötzlich damit konfrontiert werden, dass es auch Menschen mit anderen Einstellungen gibt – völlig überfordert sind. Denn Diskussionen unter Gleichgesinnten sind keine Diskurse, sondern Selbstbestätigungen. Echte Diskurse finden mit Andersdenkenden statt. Und sie erfordern Eigenschaften, die uns in der oben skizzierten, dreifaltigen Individualisierungsfalle abhanden kommen: Ertragen von Widerspruch, Wertschätzung Andersdenkender, Selbsthinterfragung, Zuhören können. Viele von uns haben es noch nicht verlernt, viele lernen es aber heute gar nicht erst und wir alle verlieren an Praxis.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, den Aufstieg populistischer Parteien, absurde Verschwörungsbewegungen, „Hygiene“-Demos, millionenfache Aufrufe einschlägiger Webseiten, aber auch das zunehmend enthemmtere Auftreten von Akteuren im Rahmen von Beteiligungsprozessen genauer zu betrachten. Denn aktuell berichten kommunale Beteiliger und Vorhabenträger immer wieder von Vorfällen, die bis zur Androhung körperlicher Gewalt gehen.

Das wollen wir uns in der kommenden Woche genauer anschauen. Wir werden darüber sprechen, ob und wie man mit den kleinen und großen Trumps vernünftig umgehen kann.

Ihre Gedanken dazu interessieren mich wie immer!

Herzlichst, Jörg Sommer

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