Ausgabe #36 | 25. Juni 2020
Verheißung und Erfüllung
Es gibt Tage, da beschleicht mich das Gefühl, die Beteiligung in Deutschland soll so etwas wie eine Eierlegende Wollmilchsau sein. So umfangreich sind die Erwartungen.
- Sie soll die Demokratie retten und komplexe gesellschaftliche Fragen klären.
- Sie soll Akzeptanz für unpopuläre Großvorhaben schaffen und sie gleichzeitig auch noch beschleunigen.
- Sie soll Konflikte abräumen, aber möglichst konfliktfrei ablaufen. Sie soll befrieden, wo zuvor konträre Interessen unversöhnlich gegenüberstanden.
Sie soll Vertrauen in öffentliche Institutionen festigen, welches zuvor über Jahre erodiert ist. - Sie soll Bürgerinnen und Bürgern Demokratieerfahrung vermitteln, erreicht aber gerade in Zufallsauswahlverfahren nur einen niedrigen Promilleanteil der vom Thema Betroffenen.
Ein praktisches Beispiel ist der jetzt auf Initiative von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vom Ältestenrat unseres Parlaments beschlossene „Bürgerrat“. Verfolgt man die begleitenden Äußerungen aus dem Reichstag, dann soll dieser Bürgerrat mindestens 80 Prozent der oben geschilderten Erwartungen erfüllen.
Entsprechend konsequent ist dann auch sein Titel „Deutschlands Rolle in der Welt“.
Wär man zynisch, könnte man sagen: Ein weiteres Stellvertretergremium, dass sich an für die Lebenswirklichkeit der Bürger*innen komplett irrelevanten Thema abarbeitet – ohne jede Klarheit über die Wirkungsperspektive.
Wäre man wohlwollend, könnte man sagen: Ein guter Start, ein guter Einstieg, ein Zukunftsthema, das im Bundestag zu kurz kommt und so, frei von Großkonflikten, einen wichtigen Impuls setzt und im Parlament für mehr Mut zur Beteiligung werben kann.
Ich bin ein wohlwollender Mensch. Ich bin im Beirat der Bürgerrats-Initiative. Ich entscheide mich also für die zweite Variante, wohl wissend, dass dieser Bürgerrat und der Bundestag nun unter einem gewissen Erwartungsdruck stehen. Es gilt zu beweisen, dass die Zyniker Unrecht haben.
Das wird nicht einfach.
Die Verheißungserwartungen an Bürgerräte sind in Teilen der Zivilgesellschaft hoch, fast schon religiös aufgeladen. Ob sich diese Erwartungen erfüllen?
Das theologische Begriffspaar Verheißung/Erfüllung ist deshalb nicht ohne Grund Titel unserer heutigen Ausgabe. Demnach handelt Gott mitunter in der Weise, dass er einem menschlichen Gegenüber zunächst eine bestimmte Zukunft verheißt, diese Ankündigung dann aber erst später, manchmal erst Generationen später, erfüllt. Wir kennen dies schon aus dem Alten Testament. Doch von alleine erfüllen sich Verheißungen nicht. Sie bedürfen schon umfassender, geduldiger und kluger Anstrengungen.
Ob sich die eingangs erwähnten Erwartungen an Beteiligung schließlich realisieren lassen, bleibt offen.
Schwierig ist es auch deshalb, weil wir in Deutschland im Bereich der Bürgerbeteiligung nach wie vor immer wieder fröhlich herumdilettieren. Es gibt eine Menge Sachverstand auf kommunaler Ebene, in einigen Bundesländern auch in den Staatskanzleien, ebenso bei manchen Vorhabenträgern insbesondere im Kontext der Energiewende.
Aber es gibt keine verbindlichen Qualitätsstandards, keine anerkannten Evaluationskriterien, keine konsequente Wirkungsmessung, keine bundesstaatliche Institution, die Erfahrungen sammelt, bündelt, aufbereitet. Immer wieder wird von Experten eine bundesweite Kompetenzstelle vorgeschlagen, sie hat Eingang in diverse Bundestagsdrucksachen gefunden – ist aber am Horizont bislang ebenso wenig zu sehen, wie die bereits vor knapp drei Jahren zwischen den Koalitionsparteien vereinbarte und bis heute nicht eingesetzte Expertenkommission.
Es ist also tatsächlich eine etwas schizophrene Situation: Die Heilserwartungen an die Wirkung von Beteiligung sind immens, die dafür nötigen Strukturen, Standards und Kompetenzen sind kaum vorhanden, die Ressourcen dafür minimal.
Vor diesem Hintergrund hat sich im Rahmen der hier bereits mehrfach erwähnten Allianz Vielfältige Demokratie nun eine Initiative gebildet, die die Gründung einer bundesweiten nichtkommerziellen „Serviceagentur“ vorbereitet.
Diese soll mögliche Träger von Beteiligung dabei unterstützen, qualitativ hochwertige, wirksame, demokratiefördernde Beteiligung mit begrenzten Mitteln zu realisieren – und zugleich am flächendeckenden Aufbau der dafür benötigten Kompetenzen arbeiten. In der Arbeitsgruppe sind bislang Experten aus Kommunaler Praxis, Wissenschaft, Fortbildung und Landesverwaltungen tätig. Als zivilgesellschaftliche, partizipationsgetriebene Initiative ist sie aber nach wie vor für weitere Mitwirkende offen. Interessenten schreiben mir einfach eine E-Mail, ich vermittle gerne den Kontakt.
Es ist kein Zufall, dass diese Initiative im Rahmen der Allianz Vielfältige Demokratie entstanden ist. Denn diese hat bereits vor knapp zwei Jahren einen viel beachteten Vorschlag für „10 Grundsätze Guter Beteiligung“ publiziert. Sie erheben nicht den Anspruch, alleingültig oder erschöpfend zu sein, sprechen aber zentrale Herausforderungen an.
Wir werden uns in den kommenden Wochen hier im Newsletter einzelne zentrale Punkte genauer vornehmen. Denn solange wir keine Institution auf Bundesebene haben, die solche Qualitätsstandards systematisch implementiert, bleibt uns nur der unabhängige zivilgesellschaftliche Diskurs. Und der ist definitiv nicht überflüssig.
Die Liste der eingangs erwähnten Erwartungshaltungen gegenüber der Bürgerbeteiligung ist eindrucksvoll. Tatsächlich kann Beteiligung auch viel davon leisten. Doch das kommt nicht von alleine. Ob im Spitzensport, in der Wissenschaft oder in der Wirtschaft: Erfolgreich sind nicht die Dilettanten, sondern diejenigen, die genau wissen, was sie wann, warum und vor allem wie tun.
In der Beteiligung ist dieses wie besonders wichtig, denn sie ist noch lange kein anerkanntes Kulturgut unserer Gesellschaft. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben bis heute keinerlei persönliche Erfahrungen in einem Beteiligungsprozess. Vielen steht „das erst Mal“ noch bevor. Und da ist es besonders wichtig, dass die Partizipative Initiation positiv und zufriedenstellend verläuft.
Bislang werden Beteiligungsprozesse nicht immer gut gemacht. Häufig fangen die Verantwortlichen zu spät mit der Bürgerbeteiligung an, sie lassen sich nicht ausreichend Zeit für den komplexen Prozess, sie geben keine oder nur unzureichende Rückmeldungen über den Umgang mit den Ergebnissen.
Das aber schadet der Bürgerbeteiligung insgesamt: Bürgerinnen und Bürger machen bei neuen Bürgerbeteiligungsangeboten nicht mehr mit; Initiatoren verzichten zukünftig auf Bürgerbeteiligung. Deshalb muss Bürgerbeteiligung qualitätsvoll gemacht sein. Ein wesentlicher Grundsatz dabei ist:
„Gute Bürgerbeteiligung lebt von der Bereitschaft zum Dialog.“
Klingt banal? Ist es aber nicht. Tatsächlich gibt es mehr dialogarme Beteiligung, als man denkt. Und Vieles, was wir für Dialog halten, ist etwas völlig anderes. Der Dichter George Bernard Shaw sagte einmal, das größte Problem in der Kommunikation sei „die Illusion, sie hätte stattgefunden.” Sinngemäß gilt das auch für den Dialog in der Beteiligung.
Warum das so ist, wie wir das erkennen können und wie dialogische Beteiligung tatsächlich funktioniert, das schauen wir uns gemeinsam in der kommenden Woche an.