#37 | Digital dank Corona?

Die Pandemie führt zu digitalen Innovationen, auch in unserer demokratischen Kultur. Aber sind diese von Dauer?

Ausgabe #37 | 10. September 2020

Digital dank Corona?

Wissen Sie, welches das mit großem Abstand am weitesten verbreitete Beteiligungsformat in Deutschland ist?

Es ist weder die Planungszelle noch der Bürgerrat. Auch nicht die Bürgerhaushalte, obwohl sie in rund 80 Kommunen durchgeführt werden und sich alleine in Stuttgart über 50.000 Menschen beteiligten.

Tatsächlich sind es die Betriebsversammlungen. Auch wenn wir die in deutschen Betrieben stattfindenden Teilhabeprozesse gerne vergessen, obwohl sich fast die Hälfte der Menschen unseres Landes in der wachen Zeit ihrer Tage länger am Arbeitsplatz (und dem Weg dorthin) aufhält, als in den eigenen vier Wänden.

Tatsächlich dürfte für viele Bundesbürger*innen aktuell die Betriebsversammlung nahezu das einzige Teilhabeformat darstellen, an dem sie regelmäßig teilnehmen. Ein guter Grund also, uns die Auswirkungen der Corona Pandemie auf Teilhabestrukturen einmal auf der betrieblichen Ebene anzuschauen.

Dabei stellen wir schnell fest, dass es aktuell alles andere als vergnügungssteuerpflichtig ist, Betriebsrat zu sein. Denn zu Betriebsversammlungen lädt der Betriebsrat ein. Und das keineswegs aus freien Stücken. Er ist dazu verpflichtet, einmal pro Quartal eine Betriebsversammlung durchzuführen. Tut er das nicht, kann ihm das eine gerichtliche Absetzung einbringen.

Aktuell sind solche Versammlungen jedoch in vielen Unternehmen nur digital denkbar, denn jede/r Beschäftigte hat das Recht zur Teilnahme – kaum ein Betrieb jedoch Räumlichkeiten, in denen alle Beschäftigten unter Wahrung von Sicherheitsabständen und Hygieneregeln Platz finden. Deshalb sind solche Versammlungen nun auch, theoretisch, digital möglich.

Es bleibt aber bei der Theorie: Denn ein Betriebsrat muss nicht nur sicherstellen, dass alle Beschäftigten teilnehmen können – und längst nicht jede/r Mitarbeiter*in hat einen dienstlichen Inter- oder Intranetzugang. Der Betriebsrat hat auch dafür zu sorgen, dass ausschließlich Betriebsangehörige teilnehmen können. Wenn also im Homeoffice der Kollegin kurz mal der Ehemann über die Schulter schaut und so Betriebsinterna erfährt, hat der Betriebsrat ein Problem.

Faktisch gibt es also in vielen Fällen schlicht keine regelkonforme Lösung. Kein Wunder, dass mir erst vor wenigen Tagen der Betriebsratsvorsitzende eines Großunternehmens seufzend anvertraute: „Bin ich froh, wenn der ganze Spuk vorbei ist und wir endlich wieder in den Normalzustand zurück können.“

Und genau aus diesem Grund habe ich Ihnen diese Geschichte erzählt. Die Situation, die Nöte, aber auch die Hoffnungen dieses Betriebsratsvorsitzenden sind symptomatisch für unseren aktuellen Umgang mit der Corona-Krise – was unsere demokratische Kultur betrifft.

Wir haben in den vergangenen Monaten viel Teilhabe digitalisiert, haben eine unglaubliche Dynamik gesehen und spontan Möglichkeiten digitaler Demokratie geschaffen, die zuvor in Jahren nicht denkbar schienen.

Bürgerbeteiligungsformate wurden zu Anfang der Pandemie noch flächendeckend abgesagt (Vgl. z.B. die Corona-Studie des bipar), dann aber innerhalb weniger Monate massenhaft in digitale Formate überführt. Dienstleister für digitale Beteiligung schieben Überstunden ohne Ende, Vereine dürfen nun auch digitale Versammlungen abhalten, wenn es nicht explizit in ihrer Satzung vorgesehen ist, Betriebsversammlungen sollen digital möglich ein, auch Betriebsratssitzungen (was bislang untersagt war). Es gibt digitale Parteiversammlungen, digitale parlamentarische Abende, digitale Bürgersprechstunden und vieles mehr.

Man könnte also zu dem Schluss kommen, Corona hätte auch für unsere demokratischen Strukturen einen starken Schub gebracht.

Nichts wäre falscher.

Denn zentrale Strukturen unserer Demokratie sitzen Corona einfach aus. Der Bundestag, unser höchstes demokratisches Gremium, macht keine Anstalten, über eine Digitalisierung des Betriebs auch nur nachzudenken. Die besagten Lösungen für betriebliche Teilhabe sind ebenso wie nahezu alle digitaldemokratischen sonstigen Optionen befristet, zumeist bis zum Ende dieses Jahres. Noch immer haben viele öffentliche Verwaltungen – bis hoch zu Landesregierungen – keine Möglichkeit, aktiv Videokonferenzen zu veranstalten. Häufig ist sogar den Beschäftigten streng untersagt, auf dienstlichen Rechnern an externen Videokonferenzen teilzunehmen. Alle Arten von Wahlen in Deutschland werden nach wie vor analog geplant. Jenseits der Briefwahl gibt es keine Angebote. Eine Reform der rechtlichen Voraussetzungen steht nicht auf der Agenda.

Im Grunde versuchen wir gerade, unsere demokratischen Strukturen irgendwie durch die Pandemie zu bringen, getrieben von der Hoffnung, dass alles irgendwann wieder so wie früher werden könne.

Wird es nicht.

Die Zukunft ist digital. Das muss einem nicht gefallen. Aber das ändert nichts an der Entwicklung. Und deshalb müssen wir anfangen, uns ernsthaft mit der digitalen Demokratie zu beschäftigen.

Bislang gibt es in unserem Land zwei grundlegende Denkrichtungen in der Digitalisierung: Die einen sehen sie als datenschutzrechtliche Bedrohung, die anderen als kommerzielle Phantasie. Beide streiten um „Digitalisierung first, Bedenken second“ (FDP) oder eben das Gegenteil. Dabei sehen die wirklichen Herausforderungen für unserer Gesellschaft anders aus:

Es geht nicht darum, Digitalisierung zu verhindern oder zu fördern, sondern zu gestalten – insbesondere was die Meinungsbildung, Teilhabe und Entscheidungsfindung in unserer Gesellschaft betrifft.

Corona war ein wichtiger Impuls. Doch er darf nicht ohne Wirkung bleiben.

Denn unsere Demokratie wird längst digitalisiert. Allerdings von den falschen Akteuren. Gehen wir den aktuellen Weg weiter, werden wir auch in 10 Jahren noch analoge Gremien analog wählen und dabei zwischen analog aufgestellten Kandidat*innen entscheiden. Die politische Meinungsbildung allerdings wird zu diesem Zeitpunkt nahezu ausschließlich im digitalen Raum organisiert – von privatwirtschaftlichen Unternehmen.

Schon heute ist es so, dass die politische Meinungsbildung und der Diskurs weit überwiegend nicht auf Parteiveranstaltungen, in Bürgerversammlungen, an Infoständen stattfinden, sondern auf den digitalen Plattformen.

Die aber gehören zu 100% Privatunternehmen mit privaten, kommerziellen Interessen. Diese fördern nicht den Diskurs der unterschiedlichen Meinungen, sondern die Selbstbestätigung identischer Einstellungen. Die so geschaffenen sozialen Blasen sind eben kein zufälliger Kollateralschaden, sondern tatsächlich das Kerngeschäftsmodell von Mark Zuckerberg und Seinesgleichen.

Diese unkontrollierte Entwicklung in Verbindung mit einer langfristig analog bleibenden Demokratiekultur entwickelt sich zunehmend zu einem brisanten Sprengsatz für unsere Demokratie.

Es wäre fatal, sich vor diesem Hintergrund zu wünschen, dass wir nach Corona in unsere alten Muster zurückfallen dürften.

Es wird höchste Zeit, aus den pandemiebedingten Disruptionen einen Impuls für eine demokratische Digitalisierungsstrategie zu generieren.

Eine Chance, diese Debatte zu führen, bietet sich am 13. Oktober dieses Jahres: Die Stiftung Zukunft Berlin und die Allianz Vielfältige Demokratie laden in Berlin zu einer Fachtagung „Demokratie 4.0“ ein, die genau diese Debatten ermöglichen will.

Ich selbst werde eine der drei Keynotes halten, weitere Impulse kommen u.a. von Vertreter*innen aus Österreich, Estland und den Niederlanden. Wir hören Erfahrungsberichte zur Digitalisierung demokratischer Prozesse, Analysen und Impulse aus unterschiedlichen Bereichen. Es gibt Zeit für gemeinsame Debatten. Natürlich ist auch eine digitale Teilnahme möglich. Das Programm finden Sie hier. Anmelden können Sie sich hier. Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.

Übrigens gibt es eine gute Nachricht: Der vom Ältestenrat des Deutschen Bundestags beschlossene Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ wird in Kürze seine Arbeit aufnehmen. Das ist gut. Gut wäre es auch, darüber nachzudenken, ob wir nicht zügig auch einen anderen Bürgerrat an den Start bringen: Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen Bürgerrat zur „Digitalen Demokratie“.

Denn die Digitalisierung findet statt. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass in Zukunft auch die Demokratie weiter stattfindet …

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