#273 | Die asynchrone Gesellschaft

Unsere Kommunikation findet immer mehr zeitversetzt statt. Das hat Folgen für die Qualität der Diskurse.

Ausgabe #273 | 27. März 2025

Die asynchrone Gesellschaft

Die Lehrerin meiner Tochter wollte helfen.

Denn sie hatte, trotz intensiver Vorbereitung in der Klasse und einiger Bewerbungen, noch immer keinen Platz für das obligatorische Schülerpraktikum gefunden.

Die meisten Mitschüler*innen waren fein raus. Sie gingen einfach eine Woche mit ihren Vätern, Müttern, Onkeln oder Tanten zur Arbeit.

Besonders gut waren jene dran, deren Eltern im naheliegenden AUDI-Werk beschäftigt waren: Für sie konnten die Eltern einen einwöchigen Erste-Hilfe-Kurs beim betriebsärztlichen Dienst klarmachen – sehr beliebt, denn die Kids waren kurz vorm Führerscheinalter.

Unsere Tochter hatte Pech. Keine abhängig beschäftigten Eltern, schon gar nicht bei Audi.

Also half ihr die Lehrerin, hatte einen sogar recht interessanten Praktikumsplatz im Jugendzentrum klargemacht und gab ihr die Telefonnummer der dortigen Leitung.

Sie musste nur noch anrufen.

Genau das war das Problem.

Viele junge Menschen heute sind digitale Profis. Sie bespielen souverän ein halbes Dutzend Kanäle, teilen Videos und Bilder aus ihrem Alltag, versuchen sich als Influencer, handeln eine dreistellige Zahl von Nachrichten via WhatsApp, Telegram u. Ä.

Aber sie bekommen einen Panikanfall, wenn sie telefonieren sollen.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 tauschen sich 95 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland regelmäßig allein über Kommunikationsplattformen aus – im Schnitt erhalten sie 36 Nachrichten pro Tag.

Nur jeder Fünfte telefoniert täglich.

Die meisten Jugendlichen sind telefonisch nicht erreichbar. Und nur ein kleiner Teil ruft bei verpassten Anrufen zurück. Oft kommt eine kurze WhatsApp-Nachricht: „Was los?“

Und das ist schon die Langversion.

Manche Dialoge bestehen dann sogar aus einer Kette von Sprachnachrichten. So sehen viele „Telefonate“ im Jahr 2025 aus.

Gleichzeitig etwas gemeinsam tun – und sei es auch nur, miteinander zu telefonieren, ist eine seltene Kulturpraxis geworden.

Die Digitalisierung hat tatsächlich einen weiteren, gerne übersehenen Nebeneffekt gebracht:

Unsere Gesellschaft wird zunehmend asynchroner.

In Zeiten des linearen Fernsehens sahen Millionen von Menschen samstags Abend die gleiche Show – und hatten ein Gesprächsthema. Heute streamt jeder was er will, wann er will.

Ob morgens die Tageszeitung oder abends um 20:00 Uhr die Tagesschau: Dieselben Informationsquellen wurden in gleichen Zeiträumen konsumiert. Heute hat jeder seinen individuellen Nachrichten-Feed, der oft genau ausschließlich aus nicht-journalistischen Social Media Posts besteht.

Früher dominierte der Vereinssport: Gemeinsam und zeitgleich mit anderen wurde dieselbe Sportart ausgeübt. Heute betreiben selbst Sportvereine Fitness-Studios. In denen jeder trainiert wie er will, wann er will.

Im Studium und am Arbeitsplatz gibt es ähnliche Trends: Aus Vorlesungen werden Videostreams, Homeoffice führt dazu, dass immer seltener alle Mitglieder eines Teams an einem Ort arbeiten.

Unsere soziale Interaktion reduziert sich nicht, aber sie wird immer asynchroner. Dadurch entsteht der Eindruck, dass wir sie stärker steuern würden, dass wir selbstbestimmter kommunizieren können.

Doch das stimmt nur zum Teil. Wir haben mehr Einfluss auf das Wann – sind aber zugleich abhängiger davon, dass andere für ihren Teil der Kommunikation denselben Anspruch erheben.

Was dadurch auf jeden Fall leidet: Die Fähigkeit zum Dialog. Zum unmittelbaren Austausch, insbesondere zu kritischen Themen.

Der will gelernt und geübt sein. Und genau das ist die Herausforderung.

Ganz besonders für Prozesse der politischen Teilhabe.

Da denken wir nämlich oft darüber nach, ob wir nun digital oder analog beteiligen. Oder beides. Und wenn, dann wie aufeinander abgestimmt.

Manchmal findet Beteiligung parallel im digitalen und analogen Raum statt, manchmal nacheinander, manchmal gut aufeinander abgestimmt, manchmal chaotisch nebeneinanderher.

„Crossmediale“ Beteiligung gilt gemeinhin als ebenso anspruchsvoll wie erstrebenswert.

Sich in der Konzeption von Beteiligung Gedanken über digitale und analoge Formate zu machen, ist unerlässlich.

Bei der Auswahl der Formate spielen durchaus verschiedene Kriterien eine Rolle. Die Zugänglichkeit für bestimmte Beteiligtengruppen zählt dazu, oft auch die Kostenfrage. Wird wie oft bei großen Infrastrukturvorhaben von vielen Beteiligten ausgegangen, ist auch die effiziente Verarbeitung der Impulse aus der Beteiligung ein Thema.

Das alles sind wichtige Faktoren.

Nur selten aber spielt der Faktor Asynchronität eine Rolle. Dabei ist er von ganz entscheidender Bedeutung dafür, wie ein Beteiligungsprozess funktioniert.

Digital oder analog hat damit etwas zu tun, ist aber nicht dasselbe.

Es lohnt sich der Blick auf einige grundsätzliche Erkenntnisse aus der Beteiligungspraxis – und anschließend auf die Ausnahmen.

Erkenntnis 1: Grundsätzlich funktionieren Diskurse am besten, wenn sie synchron stattfinden, die Beteiligten also gleichzeitig gemeinsam debattieren. Das ist in der Regel im analogen Raum besser zu organisieren. Doch auch im digitalen Raum können Videokonferenzen solche Formate (eingeschränkt) realisieren. Vielen Menschen fehlen, oft unbewusst, das Lesen der Körpersprache und spontane Reaktionen der anderen. Das macht digitale Echtzeit-Diskurse anspruchsvoller.

Erkenntnis 2: Gerade die Asynchronität ist ein großer Vorteil des digitalen Raums. Menschen können, z. B. in einem Forum, dann etwas einbringen, wenn sie einen Impuls verspüren – und Zeit dazu haben. So können Menschen interagieren, die synchron so nie zusammenfinden würden.

Erkenntnis 3: Für kritische Themen mit hohem Erregungs- und Konfliktpotential sind asynchrone Formate, wie sie im digitalen Raum üblich sind, schlecht geeignet. Strategisches Missverstehen, Eskalationen, Radikalisierung der unterschiedlichen Interessen sind selbst mit hohem Moderationsaufwand nur schwer zu verhindern.

Erkenntnis 4: Asynchrone Formate neigen deshalb zu geringerer Beteiligungstiefe. Um Eskalationen zu verhindern und/oder aufgrund der Erfahrung, dass asynchrone Debatten meist gar nicht „ins Laufen kommen“, neigen viele Anbieter dazu, eher auf klassische Vorschlagstools oder Meinungsabfragen auszuweichen, allesamt eher Vorstufen echter Beteiligung.

Erkenntnis 5: Trotz der geschilderten Widersprüche und Herausforderungen sollten bei der Konzeption von Beteiligung immer auch asynchrone Elemente erwogen werden. Weil bestimmte Gruppen (nicht nur junge Menschen) sich mit diesen Prozessen wohler fühlen, sie oft auch besser beherrschen und so die Beteiligungsschwelle gesenkt wird.

Das heißt nicht zwangsläufig, dass es immer eine analoge und eine digitale Beteiligung geben muss.

Synchrone und asynchrone Formate können auch in rein digitalen oder analogen Prozessen eingeplant werden.

Im digitalen Raum gibt es neben den Videokonferenzen noch zahlreiche weitere Optionen. Zeitgleiche Arbeit an einem digitalen Board oder in einem Online-Dokument sind gut möglich. In einem Jugendhaus konnte ich neulich einen „WhatsApp Slam“ beobachten: Alle diskutierten 15 Minuten im selben analogen Raum in derselben WhatsApp-Gruppe. Formate wie „Change my View“ sind ebenfalls digital, aber (nahezu) synchron.

Im analogen Raum können Kreative Writing Tools wie die Methode 635 oder Gallery-Walks asynchrone, individuelle Diskursbeteiligung ermöglichen.

Es mangelt nicht an Formaten. Und immer wieder werden neue entwickelt.

Worauf es wirklich ankommt, ist das Wissen um die Wirkung asynchroner und synchroner Beteiligungsformate und darauf, dass es beide braucht. In einem Mix, der entscheidend vom Thema und den zu beteiligenden Menschen abhängt.

Meine Tochter hat übrigens damals nicht angerufen.

Sie hatte Glück. Per WhatsApp kam die Zusage auf eine E-Mail-Bewerbung. Bei einer hippen Berliner Filmproduktionsfirma.

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