#120 | Sinnlose Kämpfe

Deutschland bekommt ein neues Demokratiefördergesetz. Aber was taugt es wirklich?

Ausgabe #120 | 21. April 2022

Sinnlose Kämpfe

„Meet The Germans“ heißt ein im Ausland besonders beliebtes YouTube-Format der deutschen Welle. Die gebürtige Britin Rachel Stewart führt darin in die Eigentümlichkeiten der deutschen Kultur ein. Und da sie das mit der Brille einer Zugewanderten tut, ist das oft wunderlich, meistens komisch und manchmal ziemlich absurd.

Besonders erfolgreich ist die schon vor zwei Jahren erschienene Folge „Dinge, die in Deutschland verboten sind.“

Rachel erklärt darin, dass Zunge rausstrecken in Deutschland richtig teuer werden kann und Fahranfänger*innen für das Überqueren einer roten Fußgängerampel besonders hart bestraft werden.

Für uns ist das normal. Nichtdeutsche drücken in den Kommentaren vor allem eins aus – Kopfschüttelndes Unverständnis: „You can lose your driver’s license when crossing a red light, even as a pedestrian, while you’re intoxicated!” wiederholt ein User irritiert. Ein anderer fasst zusammen: „I doubt that country would be able to function without the word »verboten«”.

Über die Lust der Deutschen am Verbieten ist schon viel geschrieben worden. Wann immer ich in Frankreich bin, und da bin ich oft und gerne, muss ich versuchen, meinen französischen Freund*innen zu erklären, wie die Deutsche Verbotsgesellschaft tickt – und warum sie funktioniert.

Spätestens beim Versuch, das komplexe Regelwerk auf deutschen Recyclinghöfen sinnvoll zu erläutern, bin ich bislang stets gescheitert. Das Zusammenleben benötigt Regeln, ohne Frage. Das gilt für alle Gesellschaften. Regeln kann man jedoch unterschiedlich denken.

Als Anregung, als Richtschnur, als Empfehlung, als Pflicht – oder eben in der negativen Variante: als Verbot.

Tatsächlich ist die Neigung in der deutschen Kultur, Regeln insbesondere in Verbotsform zu formulieren, sehr ausgeprägt. In vielen Bereichen macht das durchaus Sinn, in anderen weniger.

Zum Beispiel in Fragen der Demokratie.

Demokratie ist zunächst einmal ein positiv gedachtes Gesellschaftsmodell. Es geht um das Recht zur politischen Teilhabe, um Wahlen, um Gestaltung, um Diskurse und Mitwirkungsmöglichkeiten.

Demokratie wird vor allem durch Rechte definiert, nicht durch Verbote.

Das das gilt zweifellos auch in Deutschland. Da, wo wir Demokratie leben – also eher nicht in Wirtschaft, Wissenschaft und weiten Teilen des Bildungs- und Kulturbetriebes – basiert sie auf der Wahrnehmung von Rechten und Möglichkeiten.

Andererseits gerät unsere Demokratie zunehmend unter Druck. Ihre Institutionen, ihre Akteur*innen, ihre Ergebnisse werden von Teilen der Bevölkerung zunehmend weniger akzeptiert.

Die verbale und auch körperliche Gewalt gegen gewählte Repräsentant*innen steigt. Eine nennenswerte Zahl von Wählenden entscheidet sich für nichtdemokratische Parteien, andere verzichten gleich ganz auf ihr Wahlrecht, manche sehen sich sogar nicht einmal mehr als Bürger*in dieses Staates, sogar waschechte Nazis werden in Teilen der Republik wieder gesellschaftsfähig.

Unsere Demokratie braucht also Rückenwind.

Sie muss gestärkt und gefördert werden. Das ist auch den Regierenden in Berlin bewusst. Und deshalb wird in Regierungskreisen gerade ein „Demokratiefördergesetz“ vorbereitet.

Und jetzt wird es typisch deutsch.

Die bislang kursierenden Diskussionspapiere konzentrieren sich vor allem auf ein Thema, die so genannte „Extremismusprävention“. Im Fokus steht die Bekämpfung von demokratiefeindlichen Akteur*innen.

Entsprechend äußerte sich auch die federführende Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): „Menschenverachtung, Demokratiefeindlichkeit, Hass und Intoleranz zu begegnen, ist nicht allein eine Aufgabe von Polizei und Justiz.“

Nancy Faeser hat natürlich Recht. Und auch wieder nicht. Denn eine Demokratie hat immer Feinde. Die Stärke einer Demokratie ergibt sich nie aus der Abwesenheit von Gegner*innen sondern aus ihrer tiefen gesellschaftlichen Durchdringung.

Eine kraftvolle Demokratie braucht dieselbe Pflege wie ein kraftvoller Körper. Beides fällt nicht vom Himmel, sondern bedarf regelmäßiger, intensiver Praxis. Wer die ganze Woche über faul auf der Haut liegt, kann am Samstag noch so viele Gewichte stemmen, der Effekt geht gegen null.

Da hilft es dann auch nicht, zweimal die Woche durchtrainierten Profis beim Fußballspielen zuzuschauen. Muskeln wachsen nicht vom Zuschauen. Das gilt auch für die Einstellung zur Demokratie.

Der bekannte amerikanische Schriftsteller, Essayist und Kommentator Adam Gopnik erläuterte in einem wundervoll formulierten Essay für den New Yorker kürzlich:

„Der Standardzustand der Menschheit besteht nicht darin, in weitgehend egalitären und stabilen demokratischen Arrangements zu gedeihen, die nur dann aus dem Gleichgewicht geraten, wenn etwas passiert, das sie aus dem Gleichgewicht bringt. Der Standardzustand der Menschheit, der sich über Jahrtausende der Geschichte erstreckt, ist eine Art Autokratie.“

Das klingt hart. Man muss ihm nicht zustimmen, aber was er daraus ableitet, ist das wirklich Spannende: „Die interessante Frage ist nicht, was Autokratie verursacht (ganz zu schweigen von dem verschwörerischen Denken, das sie nährt), sondern was sie jemals aufgehoben hat.“

Seine darauf basierenden Vorschläge sind auf die amerikanische Gesellschaft gemünzt und lesenswert. Im Grunde laufen sie auf das hinaus, was so nahe liegt, aber gerade uns Deutschen wieder auch so fern:

Demokratie stärken wir nicht, in dem wir „Extremismus“ bekämpfen. Demokratie stärken wir, indem wir Demokratie stärken. Und das heißt ganz praktisch: Mehr davon praktizieren.

Ein echtes Demokratiefördergesetz verteilt deshalb nicht nur Geld an Präventionsberatungsprojekte, sondern fördert Demokratie in Lebensbereichen, die bislang weitgehend demokratiefrei sind.

Wir verbringen heute je nach Lebensphase den weitaus größten Teil unserer wachen Zeit in Schule, Ausbildung oder Studium und am Arbeitsplatz. Genau diese Lebensbereiche haben in Sachen praktischer Demokratie eine Menge Luft nach oben.

Ähnliches gilt für die unterschiedlichen Angebote der Bürgerbeteiligung. Es gibt sie. Aber die übergroße Zahl der Menschen in unserem Land hat noch keine einzige Erfahrung damit gemacht. Und die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändert, liegt im Promille-Bereich. Weil zum Beispiel unsere Kommunen als idealer lebensnaher Lernort für Demokratie dafür viel zu wenig Personal und Finanzen haben.

Ein Gesetz, das mehr Teilhabe in Schulen, Unternehmen und Kommunen organisiert – und finanziert, das wäre ein echtes Demokratiefördergesetz. Denn fördern ist etwas anderes als bekämpfen. Behandeln wir also unsere Demokratie ebenso, wie wir unseren Körper behandeln sollten:

Wenn unsere Muskeln an Kraft verlieren und zittern, sobald wir eine Getränkekisten anheben, dann können wir ihnen das verbieten. Aber es nutzt nichts. Wir müssen schlicht mehr, öfter und schwerere Kisten heben.

Auch, wenn es weh tut.

Wenn Menschen heute kein positives Verhältnis zur Demokratie verspüren, dann sollten wir uns fragen, ob wir ihnen nicht einfach zu wenig davon anbieten.

Vielleicht es ist wie bei den Kisten. Vielleicht müssen wir schlicht mehr, öfter und auch zu schweren Fragen Demokratie praktizieren.

Auch, wenn es weh tut.

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6 Kommentare
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Elke Hoffmann
22. April 2022 7:33

Ich finde nicht die Verbote so sehr beeinträchtigend sondern die Vorschriften und bürokratischen Vorbedingungen bei allen Aktionen, die ich plane als störend und behindernd.

Prof. Dr.Helmut Klages
22. April 2022 11:01

Hervorragend formuliert!
Herzliche Grüße Klages

TGG
11. Mai 2022 11:13

Ausgabe für Ausgabe für Ausgabe Ihres Newsletters bin ich begeistert von Ihren Perspektiven und der Art wie Sie beschreiben, einbetten und in Vergleiche setzen, Herr Sommer. Vielen lieben Dank dafür!

Ich wünsche, ich könnte mir auch nur die Hälfte davon merken und abrufbereit haben.

Wahrscheinlich müsste ich wohl alle Augaben drei bis vier mal lesen, um da annährend hinzukommen. Mal schauen, ob ich das hinkriege.

Ich freue mich auf alle weiteren Ausgabe Ihre Newsletters!

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