#189 | Beteiligung mit Brille

Wenn Augmented Reality auf KI trifft, entstehen völlig neue Beteiligungsprozesse.

Ausgabe #189 | 17. August 2023

Beteiligung mit Brille

Vor einigen Wochen habe ich unser Wohnzimmer aufgeräumt. Also so richtig.

Erstmal alle Möbel raus. Auch die Teppiche.

Und dann kamen neue Möbel rein. Endlich genug Bücherregale, ein schöner Lesesessel. In Grau.

Sah aber doch nicht so gut aus wie erwartet, also habe ich ihn gegen einen blauen ausgetauscht.

Am Ende war das Wohnzimmer genau so, wie ich es immer wollte. Gedauert hatte der Umbau eine knappe Stunde.

Gekostet hatte er nichts.

Dafür war der Spaß auch in dem Moment vorbei, in dem ich mein Handy zur Seite legte.

Ausprobiert hatte ich die IKEA-App, nicht die deutsche, sondern die US-Version.

Sie bietet Augmented Reality vom Feinsten, indem sie reale Räume scannt, auf Kommando leerräumt und uns dann beliebige (IKEA-)Möbel platzieren lässt.

Endlich kann man die Wand komplett mit Billy-Regalen zustellen, viel zu große Sofas in kleine Räume pferchen, ästhetische Wohlfühloasen bauen oder quietschbunte Farbverbrechen begehen.

Und natürlich kann man die Produkte per Knopfdruck bestellen. Die alten Möbel rausräumen, muss man dann allerdings noch selbst, bevor die neuen kommen.

Momentan testet IKEA in begrenzten Märkten, ob das Angebot wirklich absatzfördernd ist. Denn es kann auch gegenteilige Wirkungen erzeugen.

Kund*innen, die nun frühzeitig erkennen, dass das neue Sofa doch nicht so wirklich gut zu den anderen Möbeln passt, können auch die anderen Möbel austauschen. Oder sie verzichten vielleicht auf einen Kauf, den sie sonst bereut hätten.

Deutsche Kund*innen müssen sich deshalb vorerst mit einer eigenen, älteren IKEA-App zufriedengeben, die nicht aufräumt, nur zustellt, und auch das nur mit einem kleinen Teil des aktuellen Programms und nicht immer in überzeugender Optik.

Mit ähnlichen Anwendungen experimentieren auch andere Anbieter. Aus den ersten „Konfiguratoren“, die wir von den Webseiten der Automobilhersteller kennen, sind zwischenzeitlich ganz ansehnliche Apps geworden.

Natürlich waren auch diese technischen Entwicklungen wie fast immer von Konsum, Umsatz und Profit getrieben.

Doch zwischenzeitlich erleben wir erste Experimente mit Augmented Reality auch im Feld der demokratischen Teilhabe.

Es begann im Städtebau mit Verkehrssimulationen und virtuellen Gebäuden. Zunächst nur als statische Bilder, später auch in digitalen Simulationen.

Zwischenzeitlich gibt es spezialisierte Firmen, die Infrastruktur- und Bauprojekte digital in ihr reales Umfeld projizieren können.

Das sieht noch lange nicht immer gut aus und ist oft noch zu aufwendig und deshalb teuer.

Aber die Entwicklung ist dynamisch.

Ein aktuelles Projekt mit dem Titel „Connected Urban Twins (CUT)“ nähert sich dem Thema von der anderen Seite. Es platziert keine digitalen Ideen in reale Umfelder, sondern baut ganze „digitale Zwillinge“ von Großstädten.

Dort können später digitale Simulationen eingefügt werden. Der Vorteil: Sie können dann auch von jedem betrachtet werden, ohne vor Ort sein zu müssen.

Beide Konzepte ähneln sich. Und es wird dauern, bis beide flächendeckend in Beteiligungsprozessen eine Rolle spielen werden.

Aber sie werden diese Prozesse verändern. Mehr als aktuell sogar von einigen Treiber*innen erwartet.

Denn meist werden digitale Simulationen noch in der Informationsphase eines Beteiligungsprozesses verortet, als Ersatz oder Ergänzung zu Statistiken, Gutachten und Experteninterviews.

Ihre wirkliche Stärke können sie jedoch erst später im Prozess ausspielen: Wenn es darum geht, Ideen und Zwischenergebnisse dem „Realitätscheck“ zu unterziehen.

Denn genau da stoßen viele Beteiligungsverfahren an ihre Grenzen. Beteiligte und oft auch Beteiligende sind sich unsicher, ob die Ergebnisse wirklich realisierbar sind. Oft wird deshalb Kreativität blockiert.

Auch wenn Planungsprofis Ideen schon frühzeitig mit einem „Nicht machbar“ abräumen, geht das ein- oder zweimal – ruiniert aber schnell das Klima.

Dazu kommt: Entscheider*innen in Politik und Verwaltung neigen dazu, Ergebnisse zu ignorieren, die nicht auf den ersten Blick überzeugen.

Genau hier können digitale Simulationen aller Couleur helfen.

Sie ebnen die Zielgerade eines Beteiligungsprozesses. Sie können dazu beitragen, Ergebnisse zu verbessern, Unsinniges konsensualer zu beerdigen und gute Ergebnisse auch überzeugend zu präsentieren.

Noch sind wird nicht so weit.

Noch ist die Technik teuer und der Bau von digitalen Visualisierungen dauert noch zu lang. Aber die Fortschritte sind atemberaubend.

Und kombiniert mit den neuen Möglichkeiten der KI können wir eines Tages Beteiligungsprozesse erleben, die in Phasen durchaus an eine gemeinsame SIMS-Session erinnern.

Ob gemeinsam vor einem Bildschirm, im Rahmen einer Videokonferenz oder in einem Saal voller Menschen mit seltsamen Brillen:

Es wird anders, wenn alle Beteiligten sehen, was ihre Ideen anrichten.

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