#175 | Heute ist morgen schon gestern

Demokratische Teilhabe ist Zukunftsgestaltung. Doch dazu braucht es auch den Blick zurück.

Ausgabe #175 | 11. Mai 2023

Heute ist morgen schon gestern

Die Aussage im Titel des heutigen Newsletters ist im Grunde eine ziemlich banale Erkenntnis. Und doch fasziniert sie immer wieder. Sie ist Titel von mehreren Gedichtbänden, von Spielfilmen, von Ausstellungen und Popsongs.

Der große Komiker Karl Valentin konnte mit heute, morgen, gestern minutenlanges Chaos in den Köpfen seiner Zuschauer*innen produzieren.

Das Spiel mit den Zeitbegriffen ist deshalb so faszinierend, weil es verwirrt, aber auch eine tiefere Sinnebene hat.

Gestern, heute und morgen hängen zusammen, liegen auf dem Zeitstrahl in klarer Reihenfolge. Und doch ist das Verhältnis nicht so einfach, wie es zunächst den Anschein hat.

In der vergangenen Woche haben wir darüber gesprochen: Zeit ist der wohl am meisten unterschätzte Faktor in demokratischen Prozessen.

Deshalb lohnt sich ein Blick darauf. Bei der Planung, der Moderation, der Evaluation. Wenn es nicht läuft – und wenn es gut läuft. Immer.

Tatsächlich gibt es sogar einige innovative Beteiligungsformate, die ganz bewusst mit Reisen in der Zeit spielen.

Heute wollen wir uns einige davon einmal genauer anschauen.

Politische Teilhabe hat oft den gleichen Ausgangspunkt: der Status quo.

Der soll sich ändern. Es gibt zum Beispiel ein Vorhaben, das realisiert werden soll.

Oder er muss sich ändern. Weil es einen Konflikt gibt, der gelöst oder zumindest entschärft werden soll.

So oder so: Beteiligung beschäftigt sich mit Veränderung. Ob gewünscht, erhofft, befürchtet oder erzwungen.

Veränderung aber findet immer auf einer Zeitachse statt. Gute Beteiligung hat deshalb auch immer die Zeit im Fokus. Und aus Erfahrung wissen wir: Dieselben Veränderungen können gesellschaftlich weitgehend konfliktfrei stattfinden – oder für tiefe Verwerfungen sorgen. Je nachdem, ob sie zu schnell, zu langsam oder (un-)angemessen geschehen.

In Beteiligungsprozessen spiegelt sich das – oft auch in der Frage, wie weit der Blick in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit geht – wider.

Entsprechend haben sich Formate entwickelt, die ganz besonders intensiv mit dem Faktor Zeit spielen.

Ein Klassiker sind die so genannten Zukunftswerkstätten. Maßgeblich geprägt vom Zukunftsforscher Robert Jungk, gehen sie mit dem Faktor Zeit eher konventionell um. Der gemeinsamen Wahrnehmung und Kritik des Status quo folgt eine Fantasiephase, in der Ziele und Visionen entwickelt werden, deren Verwirklichungschancen anschließend geprüft und Strategien entwickelt werden. Zukunftswerkstätten sind auch deshalb ein Klassiker, weil sie funktionieren.

Eine spannende Alternative dazu sind Szenario-Workshops. Sie erweitern die Zeitachse, indem sie sich dezidiert und methodisch bewusst nicht mit einer Zukunft, sondern mit diversen denkbaren Zukünften auseinandersetzen. Auch diese Methode geht vom Status quo aus, identifiziert Einflussfaktoren, die das jeweilige Problem bzw. Thema beeinflussen und entwickelt dann mögliche – positive oder negative – Szenarien. Die auf dieser Grundlage entwickelten Szenarien zielen dann nicht auf nur eine erstrebenswerte Zukunft ab, sondern auf den angemessenen Umgang mit diversen denkbaren Zukünften. Eine hervorragende Methode zur Findung von gemeinsamen Handlungsoptionen bei konfliktreichen Themen wie Migration, Klimawandel oder Wohnen.

Eher aktivierend wirkt die Methode des Dragon Dreaming. Sie ist darauf ausgerichtet, Projektideen gemeinschaftlich in die Tat umzusetzen. Der individuelle Traum des Initiators (das kann auch eine Gruppe, eine Kommune oder ein Verein sein) soll durch einen regen Diskurs zum Traum aller Beteiligten werden und zu einer besseren Gesellschaft beitragen. Das Wirken der kollektiven Intelligenz, nicht nur bezüglich der kognitiven, sondern auch intuitiven Fähigkeiten des Menschen, ist die Grundannahme von Dragon Dreaming. Erfunden wurde das Konzept von dem Australier John Croft und dessen Frau Vivienne H. Elanta. Es verbindet sowohl Kulturelemente der Aborigines als auch Ideen der System-, Chaos- und Komplexitätstheorie. Am Anfang steht das intensive Auseinandersetzen in der Gruppe mit dem ursprünglichen Traum des einen, der zum Traum aller werden soll – und sich dabei natürlich auch verändert. Der Traum- folgt die Planungs- und schließlich die Handlungsphase – am Ende steht das gemeinsame Feiern. Dragon Dreaming ist weit weniger esoterisch, als es zunächst erscheint und eine erstklassige Methode vor allem für gemeinwohlorientierte Vorhaben, es bedarf allerdings einer methodisch erfahrenen Moderation.

Ganz anders ist der Umgang mit der Zeit beim Partizipativen Backcasting. Hier wird gesprungen. Zunächst in die Zukunft, bei der Ausarbeitung eines erstrebenswerten künftigen Idealzustandes, bewusst völlig unabhängig von gegenwärtigen Vor-¬ und Rahmenbedingungen. Anschließend entwickeln die Teilnehmenden aus der Zukunft rückblickend den Weg, auf dem dieser Idealzustand erreichbar wird. Dieser Weg wird in Schritte unterteilt. Für jeden Schritt werden dann Rahmenbedingungen erarbeitet, die die Verwirklichung der Zukunftsvision ermöglichen. Das Partizipative Backcasting kann beides: Eher homogene Gruppen für eine aktive Zukunftsgestaltung befähigen – aber auch Konflikte bearbeiten, wenn sie nicht zu fundamental und/oder eskaliert sind.

Es gibt noch Dutzende Formate, die auf einem kreativen Umgang mit heute, gestern oder morgen basieren. Sie alle haben ihre spezifischen Stärken.

Was wir aus dieser Erfahrung mitnehmen können, ist: Bei der Auswahl der passenden Methode für Thema, Ziel und Beteiligte sind wir gut beraten, nicht nur zu wählen, was wir kennen. Sondern auf viele Faktoren zu achten:

Prägen eher Konflikte den Prozess? Sind es Ängste, Sorgen oder Hoffnungen? Geht es (auch) um Aktivierung, um Gemeinwohl, um tagesaktuelle Lösungen oder langfristige Strategien? Ist die Gruppe hoch divers oder weitgehend homogen?

Dabei dürfen wir dennoch entspannt bleiben: Die „falsche“ Methode gibt es eher selten. Aber oft eine bessere. Und im Zweifel gibt es auch noch eine ganz andere Option:

Mehrere Formate vorzustellen und gemeinsam mit den Beteiligten jene auszuwählen, bei der sich die Gruppe am wohlsten fühlt.

Das geht nicht immer.

Aber immer, wenn es geht, lohnt es sich.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

1 Kommentar
Inline Feedbacks
View all comments
Thomas Rehehäuser
12. Dezember 2023 9:56

Danke für den Hinweis zu den Zukunftswerkstätten. Eine tolle Methode, um in einer Gruppe die Zukunft vorauszudenken 👍.

Weitere Ausgaben