#82 | Paracelsus und die Partizipation

Wenn Filterblasen zerplatzen werden die Diskussionen hässlich. Ein mittelalterlicher Arzt und Alchemist hat da einen wertvollen Hinweis für uns.

Ausgabe #82 | 29. Juli 2021

Paracelsus und die Partizipation

Vanillepudding ist lebensgefährlich.

Nicht wegen des darin enthaltenen Zuckers. Der tötet eher auf der Langstrecke. Über die Volkskrankheit Diabetes wollen wir heute nicht sprechen, dies ist ja kein Gesundheitsnewsletter.

Tatsächlich ist es die Vanille selbst, die in entsprechend hohen Dosen giftig wirkt. Arbeiter*innen, die beim Sortieren und Verpacken von Vanille eingesetzt werden, klagen über Hautausschläge, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Und tatsächlich eine Vanillevergiftung theoretisch möglich. Praktisch müsste man dazu allerdings unfassbar viel Vanillepudding zu sich nehmen. Ähnliches gilt auch für Zimt, Muskatnuss oder Safran und viele andere Lebensmittel.

Schon der spätmittelalterliche Arzt und Naturforscher Paracelsus prägte das Zitat: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht‘s, dass ein Ding kein Gift sei.”

Paracelsus, der selbst pikanterweise vermutlich an einer Quecksilbervergiftung starb, hat uns damit ein berühmtes Bonmot hinterlassen, dass tatsächlich auch im Bereich des politischen Diskurses ein spannendes Thema aufwirft.

In der vergangenen Woche haben wir die immer diverseren politischen Blasen betrachtet, die unsere Gesellschaft prägen – und sich im digitalen Raum verstärken.

Wir haben festgestellt, dass das Aufeinandertreffen von Akteur*innen unterschiedlicher Blasen regelmäßig zu Missverständnissen führt.
Grund ist die so genannte confirmation bias. Sie gaukelt uns vor, dass die Meinungen in unserer Blase auch von mehr Menschen außerhalb der Gruppe geteilt würden, als dies regelmäßig der Fall ist.

Im Grunde liegt es an der Dosis.

Je öfter wir eine bestimmte Meinung, Haltung, Einstellung oder Information hören, desto eher neigen wir dazu, sie überzubewerten. Und wir tun tendenziell alles dafür, dass wir genau jene Informationen auch immer wieder erhalten, die unsere Grundeinstellung bestätigen. Konservative abonnieren die FAZ und meiden die TAZ. Sozialdemokrat*innen schätzen den Vorwärts und alle haben „ihre“ Gruppen bei Facebook, WhatsApp oder Telegram. Den Rest erledigen deren Algorithmen für uns.

Es ist also nicht nur die Qualität der Argumente, es ist vor allem ihre Dosis, die bestärkt, immunisiert – und eben leider allzu oft auch vergiftet.

Prallen nun so in Selbstbestätigung gestählte Menschen aufeinander, herrscht oftmals großes Unverständnis – nicht nur, was die jeweiligen Positionen angeht, sondern auch, dass die jeweils Andersdenkenden ernsthaft glauben könnten, diese Positionen würden von anderen geteilt.

Die entsprechende Empörung ist nicht perfide, sie ist zutiefst ehrlich.

Für die einen sind „Querdenker“ deshalb durchgeknallte Irre, für manche „Querdenker“ wiederum sind andere willenlose Merkel-Marionetten.
In so aufgeladenen Konflikten haben häufig beide Seiten Unrecht, manchmal beide Seiten Recht, nicht selten beide Seiten eine Überdosis Selbstbestätigung erhalten.

Grund genug, noch einmal kurz an Paracelsus zu denken. Seine Erkenntnis, dass es Dosis ist, auf die es ankommt, bietet uns eine interessante Perspektive auf den Umgang mit solchen Konflikten in Diskursen und Beteiligungsprozessen:

Dem Spiel mit der Dosis.

Tatsächlich können wir solche Verzerrungen in diskursiven Prozessen nicht ignorieren, nicht vermeiden und nicht allein durch den Austausch von Argumenten lösen – wir müssen auch dafür sorgen, dass die Argumente Zugang zu den Beteiligten finden.

Dazu sollten wir prinzipiell in Prozessen, die vom Aufeinandertreffen solcher Blasen gekennzeichnet sind (Und wenn sie es nicht sind, haben wir möglicherweise nicht wirklich alle Betroffenen auch beteiligt), drei Dinge im Blick behalten:

  1. Wir erhöhen die allgemeine Dosis an Argumenten. Es gibt Dutzende Formate, die intensive Diskussionen ermöglichen. Besonders geeignet sind jene, die ein Maximum an unterschiedlichen Beiträgen ermöglichen, unabhängig von deren Qualität. Ein Bürgermeistervortrag in der Turnhalle mit anschließender 10minütigen Fragerunde ist das nicht. Kleine Tischrunden, bei denen jede und jeder zu Wort kommt, bieten da schon deutlich mehr.
  2. Wir reduzieren die Bestätigungsdosis. Gruppendebatten, pro-und-contra – Formate und Ähnliches sind zumindest zu Anfang völlig untauglich, weil sie die Vortragenden dazu verführen, nur für die eigene Blase zu argumentieren – und jene dazu verleiten, lautstark Bestätigung zu signalisieren. Je öfter und je inzentiver also Gespräche geführt werden, bei denen keine Gruppen, sondern Menschen miteinander sprechen, desto besser.
  3. Wir pegeln die Dosierung. Diese Methode erfordert einen gewissen Mut. Doch der zahlt sich auf der Langstrecke aus: Stellen wir fest, dass eine Meinung, Haltung, Position deutlich unterrepräsentiert ist, dann verschaffen wir ihr mehr Raum. Dies gilt ausdrücklich auch, wenn diese Meinung der Mehrheit besonders absurd erscheint und einen möglichen Konsens konterkariert. Und es gilt ausdrücklich auch, wenn sie in einer Art vorgetragen wird (was oft der Fall ist), die für die Mehrheit schwer erträglich erscheint.

Warum ist gerade der dritte Punkt umstritten? Weil er als Stolperstein, als „unnötige“ Störung wahrgenommen wird, weil die Mehrheit ja längst konsensfähig zu sein scheint. Es nervt, es kostet Zeit, es sorgt für Unruhe.

Warum ist gerade der dritte Punkt so wichtig? Weil es nervt, Zeit kostet und für Unruhe sorgt. Denn das gibt uns allen Chancen: Es signalisiert, dass Mehrheit kein Diskursersatz ist. Es zwingt uns, unsere Argumente zu reflektieren und damit zu verbessern. Es signalisiert einen wertschätzenden Umgang mit Minderheiten.

Kurz: Es ist unbequem und damit eine Stärkung des Prozesses, der Beteiligten und der Ergebnisse – und erstaunlich oft deckt es Schwachpunkte auf, die so nachgebessert werden können.

Wenn wir also akzeptieren, dass die Stärke einer Demokratie sich vor allem darauf gründet, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht, dann ist die logische Konsequenz: Minderheitsmeinungen nicht nur zu akzeptieren, sondern ihnen überproportional viel Raum zu geben – und zwar gerade dann, wenn wir sie nicht verstehen.

Am Ende profitieren davon alle.

Die Alternative dazu wäre ein weiterer Rückzug in die Blasen der Selbstbestätigung. Wie gut das einer Demokratie tut, beobachten wir gerade Tag für Tag.

Betrachten wir unsere demokratische Gesellschaft wie den Organismus einer Sportlerin oder eines Sportlers: Erfolg kommt nur, wenn man die Komfortzone verlässt.

Immer und immer wieder.

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4 Kommentare
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Daniela Tigges
4. August 2021 0:01

Wie wahr! Herzlichen Dank für diesen wundervollen Beitrag, lieber Jörg Sommer.
Mögen wir stets aufrichtig an den Sichtweisen unseres Gegenübers interessiert sein und damit gemeinsam voran kommen.
Herzliche Grüße aus dem Sauerland,
Daniela Tigges

Gerhard Schaub
19. August 2021 14:10

Sehr schön, der Bezug zu Paracelsus. Vielen Dank, Ihre Newsletter sind immer so flüssig geschrieben und doch jedes mal so nachdenklich machen. Ein Genuß!

gregor Bornes
26. August 2021 10:42

Wir machen hier in Köln eine ähnliche Erfahrung im Bereich Gesundheitsförderung. die einzelne zum sprechen bringen ist Selbstwirksamkeit für jede einzeln, bereichernd für alle und bringt neue Erkenntnisse.

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