#190 | Die Linie

Zahlreiche Kommunen in Deutschland haben Leitlinien für Bürgerbeteiligung. Und nahezu alle sind unterschiedlich. Warum eigentlich?

Ausgabe #190 | 24. August 2023

Die Linie

In Bonn gibt es sie und in Wuppertal. Auch in Potsdam und Berlin, in Heidelberg, aber auch in Freilassing, Großpösna und Sprockhövel.

Leitlinien.

Immer mehr Kommunen in Deutschland beschließen Leitlinien für Bürgerbeteiligung.

Sie heißen unterschiedlich. Vielerorts sind es wirklich Leitlinien, anderswo Handlungsempfehlungen, Beteiligungssatzungen oder Grundsätze.

Auch der Grad der Verbindlichkeit ist unterschiedlich. Manche enthalten völlig unverbindliche Empfehlungen oder grundsätzliche Erwartungen an Beteiligung.

Andere definieren konkrete Beteiligungsanlässe, manchmal genaue Prozessschritte, einige benennen sogar konkrete Methoden und Formate, die anzuwenden sind.

Teilweise schaffen sie sogar Gremien, die verbindlicher Teil des kommunalen Rechtsrahmens werden.

Einige Leitlinien passen auf eine Seite, wie die „Grundsätze der Bürgerbeteiligung in Potsdam“. Anderswo sind es komplexe Dokumente, wie zum Beispiel in Heidelberg, wo die Leitlinien inklusive Satzung und Verwaltungsvorschrift bei ihrer Einführung 2012 auf über 50 Seiten kamen.

Es herrscht also eine bunte Vielfalt an Leitlinien, manche nennen es sogar Chaos.

Es stimmt, Standardisierung sieht anders aus.

Unsere Demokratie legt Wert darauf, dass überall für alle Bürger*innen gleiche Rechte und Rahmensetzungen gelten. Gleichzeitig leisten wir uns in der Bürgerbeteiligung eine Beliebigkeit, die in anderen demokratischen Handlungsfeldern undenkbar wäre.

Bin ich also Bürger*in einer Stadt und mir ist der Klimaschutz wichtig, kann es sein, dass ich die Chance habe, an offenen Beteiligungsformaten mitzuwirken.

Im Nachbardorf geht das vielleicht nur dann, wenn mich die Verwaltung dazu gezielt einlädt.

Nur wenige Kilometer weiter gibt es dazu möglicherweise sogar einen Bürgerrat. Dort muss ich allerdings darauf hoffen, Glück beim Auslosungsprozess zu haben.

Am größten ist jedoch immer noch die Chance, dass meine Kommune dazu gar keine Beteiligung anbietet.

Ist das gerecht? Sicher nicht.

Ist das gut. Eher nicht.

Ist die Vielfalt an kommunalen Leitlinien also schlecht?

Nicht wirklich. Natürlich würden wir uns wünschen, in allen deutschen Kommunen gäbe es vergleichbare, gut organisierte, wirksame und wertschätzende Beteiligungsstrukturen.

Doch das wäre, wenn überhaupt, nur zu einem Preis zu haben, den wir genau bedenken sollten.

Das führt uns noch einmal zurück nach Heidelberg. Dort sind die Leitlinien nicht nur besonders ausführlich ausgefallen, sie wurden auch schon sehr früh, vor über zehn Jahren, auf den Weg gebracht.

Damals wurde der sehr intensive dialogische Prozess zudem breit in den Medien diskutiert. Die nicht immer konfliktfreie Zusammenarbeit von Verwaltung, Politik, Bürgerschaft und hochklassiger Wissenschaft produzierte viel Aufmerksamkeit – und ein bis heute funktionierendes Ergebnis.

Heidelberg gilt seitdem als so etwas wie die „Mutter aller Leitlinien“. Die Mitarbeitenden der dortigen Fachstelle berichten deshalb immer wieder von Anrufen aus allen Teilen der Republik.

Oft wird die Frage geäußert, ob denn die Leitlinien aus Heidelberg kopiert werden dürfen.

Das könnte man, angesichts der Idee der Vereinheitlichung, für eine gute Idee halten. Könnte man. Sollte man aber nicht. Das sagen auch die Heidelberger*innen den Anfragenden.

Warum?

Weil die Heidelberger Leitlinien nicht gut sind? Weil sie so ausführlich sind? Oder die Heidelberger*innen ein Copyright beanspruchen?

Keiner der Gründe trifft zu.

Wir erinnern uns: Eine homogenere Leitlinienlandschaft wäre nur zu einem Preis zu haben, den wir genau bedenken sollten.

Leitlinien prägen, wenn sie gut gemacht sind, auf Jahre hinaus die Beteiligungskultur in einer Kommune. Sie definieren die Rahmenbedingungen, sind fast immer die Grundlage für Evaluationen und Weiterentwicklung.

Sie sind viel zu wichtig, um sie einfach irgendwo abzuschreiben.

Die besten Leitlinien sind nicht die Kopien guter Leitlinien. Sie sind immer das Ergebnis eines kommunalen Prozesses.

Eines Prozesses, der Zeit hat, unterschiedliche Formate kennt und vor allem: Viele Menschen beteiligt.

Natürlich muss die Rahmensetzung einer lokalen Partizipationskultur auch partizipativ entwickelt werden.

Im eingangs erwähnten Potsdam haben sie das auf die harte Tour erfahren: Die ersten Leitlinien wurden von einem externen Expertengremium im Auftrag des Oberbürgermeisters verfasst. Und scheiterten krachend.

Dann erst folgte ein partizipativer Prozess.

Mit im Ergebnis kurzen, aber klaren Rahmensetzungen und einem Modell, das heute als „Potsdamer Modell“ über Deutschland hinaus bekannt ist: einer paritätisch durch Verwaltung und Zivilgesellschaft organisierten Fachstelle für Beteiligung.

Tatsächlich kommt es gar nicht so sehr darauf an, wie die Leitlinien heißen, wie gefällig sie formuliert oder wie ausführlich sie sind.

Entscheidend ist der Prozess ihrer Entstehung.

Für Leitlinien gilt: Abschreiben ist keine Abkürzung, sondern eine Sackgasse.

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1 Kommentar
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Oliver Märker
24. August 2023 14:52

Der Prozess zur Enwicklung von Leitlinien ist unvermeidlich schon selbst (zumindest) Teil der Leitlinien. So gesehen: Volle Zustimmung Herr Sommer!

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