#196 | Die wichtigste Bilanz

Sie kostet wenig, kommt vielfach zurück, stärkt unsere Gesellschaft und stabilisiert unsere Demokratie: die Anerkennung.

Ausgabe #196 | 5. Oktober 2023

Die wichtigste Bilanz

Es sind die Unauffälligen, die töten.

Immer wieder.

So war es bei Tim K., der in Winnenden 15 Menschen tötete. Bei Adam L., der 27 Menschen erschoss. Bei Matti S., der 10 Menschen umbrachte.

Nach jedem Amoklauf wird die Frage gestellt: Warum sind die Täter vorher niemandem aufgefallen?

Weil sie eben unauffällig waren.

Keiner der Täter war vorher polizeibekannt, keiner schwer kriminell. Man hätte es keinem von ihnen zugetraut.

Sie wurden zu Außenseitern, waren sozial desintegriert.

Die Geschichten dahinter sind unterschiedlich, aber immer wieder taucht in den Erklärungen ein Wort auf:

Anerkennung.

Alle Menschen brauchen Anerkennung, Heranwachsende ganz besonders. Sie fragen: Wer braucht mich? Wer hört mir zu? Wozu gehöre ich? Bin ich gleichwertig? Werde ich gerecht behandelt? Werden meine Gefühle akzeptiert?

Bei Jugendlichen sind es vor allem drei Quellen, aus denen sie Anerkennung schöpfen können:

Die Schule bietet umfangreiche Anerkennung, wenn die Leistungen stimmen und das Sozialverhalten kompatibel ist.

Die Clique der Gleichaltrigen ist wichtiger. Definierte Rollen, dieselbe Sprache, regelmäßige Zugehörigkeitsbeweise bringen Anerkennung von denen, die am wichtigsten für die meisten Jugendlichen sind.

Auch das Elternhaus ist wichtig. Zuwendung, Liebe, bedingungslose Akzeptanz auch ins schwierigen Lebensphasen bietet vor allem emotionale Anerkennung.

Die Analyse der Lebensumstände zuvor unauffälliger Amokläufer zeigt fast immer: Anerkennung gab es für sie von keiner dieser Quellen. Sie fehlte – komplett.

Mangelnde Anerkennung macht viele Menschen krank, manche gewalttätig.

Es ist die persönliche Anerkennungsbilanz, die entscheidet, wie desintegriert sich ein Mensch fühlt. Ist sie positiv?

Oder wird ein Zerfall von Anerkennung wahrgenommen? Das ist oft ein langer, frustrierender Prozess. Zentrale Normen respektiert der Betroffene am Ende nur noch, wenn er sich selbst von den anderen ausreichend anerkannt fühlt.

Und das gilt längst nicht nur für Heranwachsende. Im Grunde sehen wir uns alle nach Anerkennung. Ganz besonders in Phasen sozialer Veränderungen und Unsicherheit.

Und das in jedem Alter.

Kommt die persönliche Anerkennungsbilanz dauerhaft unter Druck, werden soziale Normen immer weniger verbindlich.

Nur wenige laufen Amok. Aber auch Hass, Rassismus, verbale Gewalt, Demokratieverachtung können Zeichen dafür sein, dass sich Menschen nicht bzw. nicht genügend anerkannt fühlen.

Im Berufsleben ist längst erkannt worden, dass Menschen oft nicht ihren Job kündigen, sondern ihren Vorgesetzten. Mangelnde Anerkennung ist der am häufigsten genannte Grund für Kündigungen.

Zu was aber führt dann die mangelnde Anerkennung durch die demokratische Gesellschaft?

Würden wir die Weigerung, an Wahlen teilzunehmen, als Kündigung interpretieren, hätten wir eine Kündigungsrate, die jedes Unternehmen in Panik versetzen würde.

Kai Wegner, der regierende Bürgermeister von Berlin, hat zum Tag der deutschen Einheit in dieser Woche ein verbreitete „fehlende Anerkennung für Ostdeutsche“ beklagt.

Das kann manches erklären, sicher nicht alles.

Aber es macht bewusst, wie wichtig Anerkennung für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Und wie unreflektiert wir oft damit umgehen.

Dabei können wir im Kleinen damit anfangen. Denn auch in Beteiligungsprozessen geht es um Anerkennung der unterschiedlichen persönlichen Interessen, des persönlichen Engagements, ja auch kritischer Beiträge.

Tatsächlich höre ich, wenn ich Menschen in Beteiligungsprozessen nach ihren Erwartungen frage, erstaunlich oft: Anerkennung.

Die zu liefern, ist gar nicht so schwer.

Wenn Beteiligte in einem vierstündigen Workshop zur Stadtplanung sogar ihre Getränke aus dem überteuerten Automaten ziehen müssen, ist schon ein Kasten Mineralwasser eine wirksame Anerkennung.

Eine Bürgermeisterin, die die Beteiligungsergebnisse persönlich in Empfang nimmt, zeigt Anerkennung.

Gleiches gilt für eine persönliche Einladung zum Gemeinderat, wenn der die Ergebnisse diskutiert. Und ein Reservierungszettel auf dem Stuhl kostet nichts, ist aber das Sahnehäubchen.

Menschen, die wir verloren haben, können wir mit Anerkennung allein nicht zurückholen. Dort ist sie nur eine von mehreren Werkzeugen der Reintegration. Ein wichtiges zwar, aber kein Allheilmittel.

Dort, wo Menschen sich aber auf eigene Initiative oder dank großartiger Überredungskunst auf Beteiligungsprozesse einlassen, kann es nicht zu viel Anerkennung geben.

Anerkennungskultur ist elementarer Bestandteil guter Beteiligungskultur.

Sie kostet wenig. Wir müssen nur daran denken.

Das Schöne dabei: Anerkennung ist kein Nullsummenspiel, sondern eine Echo-Leistung. Je mehr wir davon verteilen, je mehr bekommen wir zurück.

Das ist gut für unsere persönliche Anerkennungsbilanz.

Und die der anderen.

Und am Ende auch für unsere Demokratie.

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1 Kommentar
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Tietje
12. Oktober 2023 13:49

Schöner Beitrag. Danke Jörg!

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