#144 | Verletzlich, aber unbesiegbar

Resilienz ist der Schlüssel für eine starke Demokratie. Die aber entsteht nicht zufällig.

Ausgabe #144 | 6. Oktober 2022

Verletzlich, aber unbesiegbar

Die Geschichte war gut, der Titel katastrophal: „Der Weg des Fürsorgezöglings“.

Auch der zweite Roman des jungen britischen Journalisten Charles Dickens war wie damals üblich zunächst als Fortsetzungsgeschichte in einem Magazin erschienen.

1838 kam er dann in Buchformat auf den Markt. „Der Weg des Fürsorgezöglings“ blieb der Untertitel. Doch heute kennt die ganze Welt nur den zum Haupttitel erkorenen Namen des Protagonisten.

Oliver Twist.

Tatsächlich war die Geschichte des Findelkindes und Waisenjungen Oliver Twist, der im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst, ohne etwas über seine Herkunft zu wissen, von Anfang an erfolgreich.

Heute ist sie ein anerkannter Klassiker der Weltliteratur, in Millionenauflage verkauft und 27 mal verfilmt.

Die Geschichte funktioniert deshalb so gut, weil der junge Held trotz hoffnungsloser Umgebung, geprägt von Gewalt, Verbrechen und Kinderarbeit, nie seinen Mut und seinen positiven Blick auf die Welt verliert. Er ist verletzlich und doch unbesiegbar.

Natürlich steckt die Geschichte voller Plattitüden und Klischees. Aber sie ist nicht gänzlich unvorstellbar.

Die Entwicklung des jungen Oliver beschreibt ein Phänomen, das die US-Psychologin Emmy Werner intensiv erforschte. Sie beobachtete über drei Jahrzehnte den Werdegang von rund 700 hawaiianischen Kindern des Jahrgangs 1955.

Ein erheblicher Teil dieser Kinder wuchs in denkbar ungünstigen Verhältnissen auf. Sie litten Hunger, wurden vernachlässigt oder Opfer von Gewalt.

Als Erwachsene kamen sie in der Gesellschaft nicht klar. Sie wurden drogenabhängig, gewalttätig, brachen die Schule ab, wurden kriminell.
Aber eben nicht alle.

Überraschenderweise schaffte es ein knappes Drittel der Kinder, ihren schlechten Start unbeschadet zu überstehen. Sie entwickelten sich zu angesehenen Mitgliedern ihrer Gemeinden, manche studierten, wurden wohlhabend, erfolgreich, anerkannt.

Emmy Werner nannte sie „verletzlich, aber unbesiegbar“ – mit einem Wort: resilient.

Resilienz ist ein Schlüsselfaktor für die Frage, wie Individuen mit Belastungen, Niederlagen und Frustrationen umgehen. Sie bestimmt, wie viel sie ertragen können, ohne zu kollabieren.

Das gilt für einzelne Menschen genauso wie für Gruppen und ganze Gesellschaften.

Und da beobachten wir ein interessantes Phänomen: In der Natur neigen Ökosysteme dazu, mit wachsender Komplexität resilienter zu werden. Einzelne Faktoren und Umwelteinflüsse können das Gesamtsystem zunehmend weniger aus der Bahn werfen.

In menschlichen Gesellschaften erkennen wir aktuell eher gegenteilige Tendenzen – besonders bezogen auf die Individuen.

Um uns herum wird alles komplexer und immer schwieriger verständlich.

Wir erleben multiple Krisen und Herausforderungen. Ob Klimakrise oder Digitalisierung, militärische Konflikte, Migration oder Pandemie.Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Alles verändert sich. Und alle Veränderungen produzieren neue Verwerfungen.

Einfache Lösungen gibt es nicht. Und auch die komplexen Lösungen scheinen nicht zu funktionieren.

Gleichzeitig geht die Resilienz der Menschen immer weiter zurück. Wir im reichen Europa leiden in der Regel keinen Hunger – aber die Aussicht, im kommenden Winter auch nur 1 Grad weniger in der Wohnung zu haben, treibt manche in Verzweiflung.

Schon die Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes löste ganze Demonstrationswellen aus. Die Aussicht, den eigenen Wohlstand mit Geflüchteten teilen zu müssen, ist für manche unerträglich. Andere vergleichen sich wegen der Impfpflicht bereits mit den Opfern des Holocaust.

Ein Windrad in Sichtweite des eigenen Hauses? Für viele unvorstellbar. Die Reihe an Beispielen ließe sich beliebig fortführen. Tempo 130 auf deutschen Autobahnen? 15 Minuten Stau wegen ein paar „Klimachaoten“ auf der Straße?

Erhebliche Teile unserer Bevölkerung können Dinge nicht mehr ertragen, die sich von außen betrachtet eher als lästig denn als lebensbedrohend darstellen.

Offensichtlich ist es nicht gut bestellt mit der Resilienz vieler Menschen – und auch nicht unserer Demokratie. Denn diese Entwicklung macht auch sie instabil, der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbröselt ebenso wie die Akzeptanz unserer demokratischen Strukturen, Akteure, Prozesse und Ergebnisse.

Emmy Werner hat übrigens herausfinden können, welcher Faktor entscheidend für die Ausbildung der Resilienz der von ihr beobachteten jungen Menschen war.

Es gab zumindest eine Bezugsperson in Familie, Umfeld oder Schule, die sie förderte, unterstützte und so vermittelte:

Du bist etwas wert.

Und da schließt sich der Kreis zu unserer modernen Demokratie: Sie braucht genau diese Strukturen und Angebote, die ihren Bürger*innen vermittelt:

Die Herausforderungen mögen komplex sein. Aber wenn wir sie gemeinsam – mit DIR – angehen, dann kann es gelingen. Wir brauchen dich. Du bist nicht nur etwas wert, du bist wichtig.

Mehr als eine Wählerstimme alle vier Jahre.

Und genau darum sind Angebote der Bürgerbeteiligung so wichtig. Ganz besonders wichtig für junge Menschen. Und deshalb ist es gut, dass gerade die Kinder- und Jugendbeteiligung so stark zunimmt.

Denn die Frage, wie resilient ein Mensch werden kann, entscheidet sich früh in seiner Biographie.

Wer in jungen Jahren Selbstwirksamkeit erfährt, begegnet Problemen und Krisen oft ein Leben lang resilient.

Und eine resiliente Gesellschaft bedarf eben vor allem resilienter Menschen.

Deshalb ist Beteiligung gerade in einer komplexen Gesellschaft so wichtig. Weil sie Konflikte erkennbar und so bearbeitbar macht.

Diese Resilienz macht eine Gesellschaft stabil. Und das ist es, worum es geht.

Zugleich wissen wir, dass wir Vieles rasch ändern müssen; dass sich unsere Art zu leben und zu arbeiten angesichts des Klimawandels fundamental ändern müssen; dass uns eine große Transformation bevorsteht.

Wenn Resilienz unsere Gesellschaft stabil macht – was braucht es dann, um den Wandel erfolgreich zu gestalten?

Die Antwort auf diese Herausforderung diskutieren wir in der kommenden Woche. Und sie wird möglicherweise überraschen …

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Ute Finckh-Krämer
9. Oktober 2022 20:36

Ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die sinnvolle Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken gegen Covid oder sinnvolle Energiesparmaßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen als unerträglich bezeichnen unverhältnismäßig viel (Medien-)Aufmerksamkeit finden. Das verunsichert dann diejenigen, die eigentlich bereit sind, guten Argumenten zu folgen. Wenn sachlicher berichtet würde, könnte unsere Gesellschaft vermutlich deutlich resilienter sein.

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