Ausgabe #19 | 7. Mai 2020
Die Partei der Partizipation?
Eine alte Weisheit lautet: In der Politik kann man sich seine Freunde nicht aussuchen.
Das gilt in besonderem Maße für die Freunde umfassender politischer Teilhabe. Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat hier bereits einschlägige Erfahrungen gemacht: Jahrelange kämpfte er für mehr direktdemokratische Elemente u.a. nach Schweizer Vorbild.
Dann kam die AfD.
Inhaltlich ist die AfD eine Partei, die sich eher über Ab- und Ausgrenzung definiert. Die aber im Rahmen ihrer „Wir hier unten gegen die da oben“ Strategie plötzlich eine laute Stimme für Volksentscheide wurde. Plötzlich bekam Direktdemokratie Aufmerksamkeit, aber dank der falschen Freunde dann um so entschiedenerer Gegner in den etablierten Parteien.
Ähnliches gilt für die Idee der so genannten „Zufallsbürger“. In vielen Beteiligungsprozessen ein probates Mittel der Teilnehmerauswahl, wird es von Einigen auch konsequent zur Philosophie der „Aleatorik“ weitergedacht, die zum Beispiel von ausgelosten statt gewählten Parlamenten und/oder Regierungen träumt.
Doch auch hier kommen schnell die falschen Freunde ins Spiel.
Denn die Idee der Auslosung statt Wahl lässt sich wunderbar auch aus einem Weltbild herleiten, in dem demokratische Politiker per se sowieso wahlweise unfähig oder korrupt oder beides zugleich sind und „der Mann von der Straße“ oder das „gesunde Volksempfinden“ viel besser geeignet sei, Gemein- oder Volkswohl zu generieren.
Eine abstrakte These? Keinesfalls.
Denn im Fahrwasser der Corona Krise entsteht gerade eine neue Partei in Deutschland, die in einer wilden Melange aus aberwitzigen Verschwörungstheorien, frustrierten Kränkungstraumata, wirrer Wissenschaftsfeindlichkeit und menschverachtenden Ausgrenzungsphantasien beachtenswerten Zulauf generiert.
Dazu kommen dann noch neue partizipative Ansätze – und eben aleatorische Forderungen. In der Summe ungewöhnlich, aber nicht unabsehbar. Vor einiger Zeit hatte ich diese Problematik bereits in einem Streitgespräch zur Aleatorik diskutiert. Schon damals deuteten einige wüste Reaktionen auf einschlägigen Plattformen im Internet darauf hin, dass in diesem Thema mehr Brisanz steckt, als viele vermuten.
Man kann sich in der Politik also seine Freunde nicht aussuchen.
Aber man kann sie sich genauer anschauen. Das wollen wir im Folgenden tun.
„Widerstand2020“ ist der Arbeitstitel der Partei, die sich als „Sammelbecken der Querdenker“ sieht. „Quer“ hier im Sinne von „schräg“. Denn der Partei läuft gerade ein buntes Sammelsurium von Menschen zu, die sich an den Rändern des demokratischen Spektrums tummeln – und in Sachen Realitätswahrnehmung auch gerne jenseits dieser Ränder.
Die Partei behauptet aktuell, bereits über 100.000 Mitglieder zu haben. Das ist vermutlich ebenso realitätsfern wie die Meinung, hinter der Corona-Krise stecke eine Strategie von Microsoft-Gründer Bill Gates, dessen Ziel es wäre, damit durchzusetzen, dass zukünftig alle Menschen einen Chip eingepflanzt bekommen.
Beängstigend ist jedoch, in welchem Umfang und von welchen Akteuren diese Partei in den Sozialen Medien Zulauf bekommt. Impfgegner, Klimawandelleugner, Antisemiten, Rassisten und Verschwörungstheoretiker teilen aufgeregt alles, was aus dem Umfeld des „Widerstand2020“ kommt.
Auch in die Mainstream Medien haben die Gründer es bereits geschafft. ARD, ZDF, sogar die TAZ berichteten. Dabei treten dann manchmal die wirren Inhalte in den Hintergrund – gegenüber diversen methodischen „Innovationen“.
Da sind zum Beispiel Ideen zur innerparteilichen Entscheidungsfindung, die digitale basisdemokratische Ansätze verfolgt, ganz ähnlich wie vor einigen Jahren die Piratenpartei.
Dazu kommen aleatorische Forderungen wie zum Beispiel die Errichtung eines Notparlaments in Krisensituationen, in dem die Parlamentsabgeordneten durch 700 Menschen ausgetauscht werden, „die in den letzten 5 Jahren nicht in der Politik tätig waren” – Politik(er)verachtung in Reinkultur.
Insgesamt geriert sich die Partei auch auf der eigenen Webseite als „Partizipative Sammlungsbewegung“. Und eben das macht sie gefährlich. Aktuell weniger für die Demokratie in unserem Land, denn die „100.000 Mitglieder“ sind bislang wohl u.a. durch den schlichten Besuch der Webseite zustande gekommen.
Gefährlich ist sie aber für partizipative Innovationen in unserem Land.
Ohne Zweifel muss sich unsere Demokratie erneuern, wenn sie zukunftsfähig bleiben will. Dazu gehört der Mut zu mehr Beteiligung, auch zu partizipativen Experimenten, wie zum Beispiel die Erprobung von Bürgerräten, wie sie der eingangs erwähnte Verein Mehr Demokratie e.V. vorschlägt. Unsere politischen Eliten für solche Experimente zu gewinnen, ist jedoch ungleich schwerer, wenn in der Öffentlichkeit solche Innovationen mit Blasen-Populisten von Rechts, Links oder aus postfaktischen Dimensionen assoziiert wird.
Die Antwort darauf kann jedoch nicht sein, sich mehr Partizipation zu verweigern. Das Gegenteil ist richtig. Je zögerlicher die Politik vorgeht, je ängstlicher Angebote zu politischer Teilhabe offeriert werden, je selektiver der Zugang dazu ist, desto attraktiver erscheinen vermeintliche „Alternativen“ und „Widerständler“.
Es stimmt: Mehr Beteiligungsangebote ziehen auch mehr Spinner an. Aber tatsächlich sind die Selbstreinigungskräfte solider Beteiligungsstrukturen erstaunlich. Ich persönlich habe schon unzählige Missionare für so ziemlich jede denkbare und undenkbare exklusive Wirklichkeitswahrnehmung in Beteiligungsformaten erlebt. Ich habe aber noch nie erlebt, dass diese sich am Ende durchsetzen konnten.
Partizipation generiert Gemeinwohl. Selten schmerzfrei, aber erstaunlich effizient – Sie ist viel zu wichtig für unsere Demokratie, um sie den falschen Freunden zu überlassen.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer