#237 | Das Gemeinwohlbarometer

Politische Teilhabe in einer Demokratie soll Gemeinwohl generieren. Doch wie kann das gelingen? In Münster haben sie darauf eine ganz besondere Antwort gefunden.

Ausgabe #237 | 18. Juli 2024

Das Gemeinwohlbarometer

Sie heißen Sonnentor, Taifun-Tofu oder Blattwerk Gartengestaltung. Und sie haben eines gemeinsam. So wie weltweit über 1.000 andere Unternehmen:

Sie haben sich der Gemeinwohl-Ökonomie verpflichtet.

Das bedeutet: Ihre Bilanzen orientieren sich nicht allein am Gewinn für die Anteileigner oder Inhaberinnen.

Sie erstellen sogenannte Gemeinwohl-Bilanzen. Das sind ethische Bilanzen, die den Beitrag des Unternehmens zum Gemeinwohl ermitteln.

Das klingt ein bisschen schräg, ist aber eigentlich nur eine konsequente Umsetzung unseres Grundgesetzes. Dort heißt es in Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Noch klarer steht es in einer anderen Verfassung: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“

So heißt es in Artikel 151 eines Landes, das heute wirklich niemand sozialistischer Umtriebe verdächtigen würde: dem Freistaat Bayern.

Wir wissen aus unserer eigenen Lebenswirklichkeit, dass Unternehmen traditionell meist eher einen anderen Fokus haben.

Das bildet sich auch in Zahlen ab. Etwas über 1.000 Unternehmen erstellen aktuell eine Gemeinwohlbilanz. Das sind etwa 0,0003 Prozent von weltweit über 300 Millionen Firmen.

Nun hat Gemeinwohl längst nicht überall Verfassungsrang. Bei uns aber schon. Ganz besonders gilt das für staatliches Handeln.

Deutsche Kommunen sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Doch Gemeinwohl lässt sich nicht so einfach im Vorhinein von Expert*innen bestimmen.

Ob ein Vorhaben, eine Lösung, ein Kompromiss wirklich dem Gemeinwohl dient, ist oft eine Aushandlungssache.

Gerade Bürgerbeteiligung soll oft genau solche Aushandlungen von und mit Betroffenen ermöglichen.

Das ist der richtige Ansatz.

Zugleich aber auch ein gefährlicher. Denn nicht selten funktioniert eine Lösung, die unmittelbar Betroffene entwickeln, nur deshalb für alle Beteiligten, weil sie zu Lasten von Unbeteiligten geht.

Wenn gemeinsam mit Anwohner*innen und Einzelhandel eine gute Lösung für die Verkehrsberuhigung einer Straße gefunden wird, klingt das gut. Dass der Verkehr aber deshalb nicht verschwindet, sondern sich möglicherweise andere Routen sucht, könnte ein Konsequenz sein. Und plötzlich haben ganz andere Menschen eine zusätzliche Belastung – ohne an dem Prozess beteiligt gewesen zu sein.

Auf nationaler Ebene neigt Politik aufgrund ihrer eigenen Dynamiken dazu, immer wieder kurzfristige Lösungen zu suchen, die politisch mehrheitsfähig und vielleicht sogar breit akzeptanzfähig sind, dafür jedoch die Interessen kommender Generationen gefährden.

Das Gemeinwohl im Blick zu behalten, ist also eine ständige Herausforderung, gerade auch dann, wenn Beteiligung praktiziert wird.

Die praktische Umsetzung kann dabei unterschiedlich aussehen. Schon bei der Überlegung, welche Gruppen zu beteiligen sind, spielt die Gemeinwohlperspektive eine Rolle.

Die Faustregel dabei lautet: Nicht nur jene beteiligen, die vom Vorhaben betroffen sind – sondern auch jene, die vom Beteiligungsergebnis betroffen sein könnten.

Das ist nicht immer ganz leicht. Deshalb gibt es auch die Möglichkeit, Beteiligungsergebnisse prinzipiell noch einmal einem Gemeinwohlcheck zu unterziehen.

Das sollte im Grunde Bestandteil jedes Prozessdesigns sein.

Einen anderen – aber ebenfalls hoch partizipativen – Zugang zum Gemeinwohl haben Akteur*innen im Hansaviertel der Stadt Münster gewählt.

Dort haben sie einen Quartier-Gemeinwohl-Index (QGI) erarbeitet.

Der QGI zeigt an, was sich Menschen aus dem Hansaviertel für ihren Stadtteil wünschen. An ihm ist ablesbar, was das Gemeinwohl auf Quartiersebene ausmacht. Entstanden ist er bereits 2019 unter Beteiligung vieler Bewohner*innen.

Im Hansaviertel wird er sogar mittlerweile als Entscheidungsgrundlage für die Förderung von Gemeinwohlprojekten herangezogen.

Da sich ein Stadtviertel fortwährend wandelt und sich damit auch die Wünsche der Menschen im Kiez ändern können, ist der QGI ein „lebendiger“ Index. Er wird verbessert, überarbeitet und geändert. Es können neue Themen hinzukommen oder veraltete Anliegen mit der Zeit wegfallen.

Der QGI besteht für diverse Themen aus drei Elementen: der Vision mit einem dazugehörigen Bild, den Indikatoren – „Was wir tun“ und „Wie es wirkt“ – und aus der Inspirationsecke „Was noch getan werden könnte“.

Mit der Vision wird ein positives Zukunftsbild entworfen, das je Thema die Richtung hin zu einer gemeinwohlorientierten Entwicklung des Viertels anzeigt. Greifbarer und für die Augen erlebbar wird die Vision mit dem gezeichneten Bild, das sie visuell ergänzt.

Unter der Kategorie „Was wir tun“ werden die Aktivitäten der lokalen Projekte in einer knackigen Zahl dargestellt.

Weil sich die Wirkung von den Projekten nicht in einer einzigen Zahl abbilden lässt, wird dies noch darum ergänzt, „Wie es wirkt“. Dort wird mit Bildern, Anekdoten usw. aufbereitet, was die Aktivitäten der Projekte bei den Menschen im Viertel bewirken.

Zusammengenommen entstehen so Indikatoren, die anzeigen und erfahrbar machen, wo das Viertel auf seiner Reise in Richtung der angestrebten Vision aktuell steht.

Den Abschluss bildet die Inspirationsecke mit zahlreichen Projektideen, die noch nicht umgesetzt wurden. Sie warten nur darauf, dass sie jemand zu seinem oder ihren Projekt macht.

Der Quartier-Gemeinwohl-Index ist partizipativ entstanden und hat die Quartiersentwicklung im Fokus. Mit entsprechender Anpassung kann er aber auch in jeder anderen Kommune als partizipativ entwickelte Richtschnur für das Design von Beteiligungsvorhaben dienen.

In Münster haben sie ihren QGI zwischenzeitlich zu einem Gemeinwohl-Barometer weiterentwickelt bzw. damit ergänzt.

Das Barometer spiegelt den Zustand des Gemeinwohls wider, wie es von Menschen aus dem Hansaviertel zum Zeitpunkt der Messung wahrgenommen wurde. Es handelt sich also um eine Momentaufnahme, die heute schon wieder anders aussehen kann – und so sollte es auch sein.

Nicht jedes Viertel braucht ein solches Barometer. Aber jede Kommune kann mit einem Gemeinwohl-Index Zusammenhalt, Lebensqualität und Nachhaltigkeit fördern.

Und das auf eine höchst beteiligungsorientierte Art.

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