Ausgabe #243 | 29. August 2024
Der kluge Benjamin
Benjamin war das 15. Kind eines Seifenmachers, sollte Geistlicher werden, war dazu aber zu rebellisch. So endete seine Schullaufbahn nach nur zwei Jahren.
Er ging zu einem Drucker in die Lehre – und arbeitete sich zum Redakteur empor.
Später wirkte er erfolgreich als Erfinder. Er konstruierte einen besonders raucharmen Holzofen, erfand den Blitzableiter und gründete die erste Leihbibliothek Amerikas. Benjamin gilt auch als Erfinder der Glasharmonika, des flexiblen Harnkatheters, einer frühen Form der Schwimmflossen und der Bifokalbrille.
Vor allem aber wurde Benjamin Franklin, von dem hier die Rede ist, zu einem der Menschen, die das Schicksal der Vereinigten Staaten von Amerika ganz besonders beeinflussten.
Auf die Frage, der wievielte Präsident der USA er war, antwortete in einer Befragung mehr als die Hälfte: der Erste.
War er aber nicht.
Auch nicht der Zweite. Oder Dritte. Oder überhaupt Präsident. Diese Fehleinschätzung ist verbreitet. Weil er die Entstehung der USA maßgeblich beeinflusst hat.
Er schaffte es, Frankreich als entscheidenden Verbündeten im Unabhängigkeitskampf zu gewinnen.
Gemeinsam mit Thomas Jefferson u. a. war er zudem einer der maßgeblichen Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Die Verfassung des neuen Bundesstaates Pennsylvania prägte er als Präsident des Autorengremiums ganz besonders: Dort wurde das Einkammersystem eingeführt. Damit gilt sie heute als der demokratischste aller Verfassungsentwürfe jener Zeit.
Insbesondere in Frankreich wurde die Idee mit großem Beifall aufgenommen und Jahre später in der Französischen Revolution umgesetzt.
Benjamin Franklin war damals ein entschiedener Treiber der Demokratie. Seine Wirksamkeit beruhte dabei weniger auf Mandaten, als auf seiner bemerkenswerten Art mit Menschen umzugehen.
Er wirkte immer wieder als Vermittler zwischen zerstrittenen Fraktionen. Seine Dialogfähigkeit gerade auch mit politisch Andersdenkenden war legendär.
Dabei griff er auch zu unkonventionellen Maßnahmen. Viele sind überliefert. Eine davon betrifft einen ernsthaften politischen Gegner, der ständig gegen ihn arbeitete.
Irgendwann erfuhr Franklin, dass dieser ein seltenes Buch in seiner Bibliothek besaß. Er schrieb seinem „Widersacher“ und fragte, ob er sich das Buch ausleihen könnte.
Postwendend erhielt Franklin dieses Buch und kurze Zeit später gab er es mit einer Dankesnote zurück. Bei der nächsten Gelegenheit begrüßte der einstige „Widersacher“ Franklin freundlich und arbeitete von da an konstruktiv mit ihm zusammen.
Franklin erklärte das so: „Der, der dir einen Gefallen getan hat, wird dir zugewandter sein, als der, dem du selbst einmal gefällig warst.“
Heute ist dieser Effekt ein gut untersuchtes Phänomen. Es wurde sogar nach Franklin benannt.
Der Benjamin-Franklin-Effekt beschreibt diese nur auf den ersten Blick widersinnige Reaktion.
Wenn wir jemanden nicht mögen, werden wir auch nicht übermäßig freundlich auf diese Person reagieren. So ein Verhalten würden wir selbst als „falsch“ wahrnehmen.
Dadurch entsteht aber eine Verfestigung des schlechten Verhältnisses, oft sogar eine Eskalationsspirale. Die lässt sich auch kaum durchbrechen, wenn die andere Person plötzlich überaus freundlich wird, uns gar einen Gefallen erweist.
Meist verstärkt das unsere Skepsis, oft reagieren wir noch ablehnender.
Der Benjamin-Franklin-Effekt dreht die Sache jetzt um: Er bietet uns die Möglichkeit, der anderen Person einen Gefallen zu tun.
Lassen wir uns darauf ein (das geht leichter, wenn der Gefallen nicht zu groß und nicht zu intensiv mit dem Konfliktthema verknüpft ist), entstehen gleich zwei Wirkungen:
Wenn ich der anderen Person einen Gefallen tue, dann kann diese ja doch nicht ganz so schlimm sein. Entsprechend schätzen wir sie zukünftig als sympathischer ein. Oft sind wir sogar dankbar dafür, die Spirale der Ablehnung durchbrechen zu können.
Zudem stärkt dieser Gefallen unser Selbstwertgefühl. Wir sehen uns grundsätzlich gerne als hilfsbereit und nutzen daher bereitwillig Gelegenheiten, bei denen wir uns auf einfache Art und Weise hilfsbereit verhalten können.
Im Grunde geht es beim Benjamin-Franklin-Effekt also um eine logische Umkehr: Sympathie erzeugen, nicht indem man einen Gefallen erweist, sondern ihn erbittet.
Und es funktioniert.
Zahlreiche Forschungsprojekte haben das praktisch belegen können.
Benjamin Franklin setzte diesen Effekt gezielt ein, um seine demokratischen Vorstellungen umzusetzen.
Und auch heute können wir uns diesen Effekt in der demokratischen Teilhabe zunutze machen.
Und das gleich auf zwei Ebenen.
Zum einen schon beim Design von Beteiligungsprozessen. Denn hier kann die Kenntnis des Benjamin-Franklin-Effekts maßgeblich die Grundhaltung beeinflussen.
Sehen wir es einmal so: Wir erweisen Beteiligten keinen Gefallen, indem wir ihnen ein Beteiligungsangebot machen. Wir bitten sie um einen Gefallen. Um ihre Zeit. Um ihr Alltagswissen. Um ihre Dialogbereitschaft, um Politik, Verwaltung oder Vorhabenträger gut zu beraten und so bessere und sicherere Entscheidungen treffen zu können.
Wer so denkt, kommuniziert auch so. Und moderiert auch so. Und gestaltet die Prozesse auch so. Und organisiert auch das Feedback so.
Gute Beteiligung ist kein Gnadenakt, sondern die Bitte an Bürger*innen um einen Gefallen.
So gedacht, kann genau die Beteiligungskultur entstehen, die wir brauchen. Gerade auch bei potentiell konfliktbelasteten Themen.
Auch auf der Mikroebene kann der kluge Benjamin uns Inspiration sein. Dann nämlich, wenn wir einzelne Beteiligte haben, die aufgrund einer kritischen Grundeinstellung keinen Weg finden, um sich in einen wertschätzenden Diskurs einbringen zu können.
Auch hier kann die Bitte um Unterstützung die Ablehnungsspirale stoppen. Egal, ob es dabei um organisatorische Unterstützung, die Bitte um die Erstellung von Zusammenfassungen oder die Moderation in Arbeitsgruppen geht – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Gut designte Beteiligungsprozesse setzen ohnehin immer auf notwendige Unterstützung durch die Beteiligten.
Sie sind niemals eine Full Service Dienstleistung.
Wenn wir also am Ende nur eine Sache von dem vor rund 250 Jahren erfolgreich agierenden Demokraten Benjamin Franklin lernen wollten, wäre es dies:
Gute Beteiligung wird von den Beteiliger*innen vorbereitet, aber mit den Beteiligten organisiert.