Ausgabe #201 | 9. November 2023
Mehr Nervensägen!
Alfred Pritchard Sloan junior war der Inbegriff eines amerikanischen Managers in der Blüte des automobilen Kapitalismus.
Vor genau 100 Jahren wurde er Präsident von General Motors (GM), einem der ersten echten Autokonzerne, der täglich weiter wuchs.
Auf Alfred Sloan ging das Konzept zurück, unter einem Dach vom billigen Einsteigerwagen bis zur Luxuslimousine alle Modelle anzubieten. So konnte GM seine Kund*innen ein ganzes Leben lang beim sozialen Aufstieg begleiten. Im Lauf der Jahre kopierten nahezu alle erfolgreichen Autokonzerne dieses System.
Sloan galt als effizienzbesessen und formte GM zu einer Gelddruckmaschine. 14 Jahre blieb er Chef von GM und wird bis heute in Managerkreisen verehrt. Auch weil er die erste Designabteilung bei einem Autohersteller ins Leben rief.
Durch immer wieder neue Produktversionen bewegte er seine Kund*innen dazu, auf ein neues Modell umzusteigen, obwohl das alte noch voll funktionsfähig war.
Er gilt als Pionier des heutigen Massenkonsums.
Weniger bekannt ist seine Einstellung zu Teamwork und den Umgang mit Widersprüchen.
Die waren ihm stets wichtig. Und das nicht nur verbal. Nichts hasste Sloan mehr als Meetings voller Ja-Sager.
Das ging so weit, dass Sloan konsequent Themen, bei denen sich alle einig waren, von der Tagesordnung nahm. Er schickte seine Manager mit dem Auftrag nach Hause, „Widerspruch zu entwickeln“, damit beim nächsten Mal eine substantielle Entscheidung möglich wird.
Dieser Ansatz ist heute alles andere als Standard. Ob in Unternehmen, in der Politik oder in gesellschaftlichen Gruppen: Spätestens seit Corona ist „Querdenker“ eher ein Synonym für „nicht integrierbar“ als für „wertvoller Widerspruch.“
Widerspruch gilt gemeinhin eher als Problem, denn als Chance. Widersprechende erarbeiten sich schnell den Status von Nervensägen.
Das ist verständlich. Und gefährlich.
Denn was schon vor 100 Jahren bei GM als Risiko für schlechte Entscheidungen galt, gilt heute immer noch.
Entscheidungen, bei denen sich zu schnell alle einig sind, bergen ein hohes Risiko.
Aus unterschiedlichen Gründen.
Möglicherweise haben die Beteiligten nicht genügend nachgedacht. Oder nur sehr selektive Informationen. Oder zu wenig Interesse. Oder die Hierarchien sind so stark, dass Widerspruch runtergeschluckt wird. Oder es sind nicht die richtigen Akteur*innen an der Entscheidung beteiligt.
Welche Gründe am Ende ausschlaggebend sind, wissen wir oft nicht im Moment der Entscheidung, sondern erst sehr viel später. Nämlich dann, wenn die negativen Folgen der Entscheidung unübersehbar werden.
Diese Erfahrung ist nicht immer, aber oft einer der Gründe dafür, einen breiteren dialogischen Prozess zu denken. Denn die Beteiligung von mehr Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen erhöht die Chance auf reflektiertere, bessere Entscheidungen.
Das gilt in Unternehmen genauso, wie in Organisationen oder in der klassischen Bürgerbeteiligung.
Gute Beteiligung zahlt ein auf die Qualität von Entscheidungen. Immer.
Und getreu Alfred P. Sloan: Ganz besonders dann, wenn sie eben nicht glatt läuft.
Wenn es Widerspruch gibt.
Ja, Widerspruch nervt. Und so werden Widersprechende (oder auch nur besonders intensiv kritisch Nachfragende) schnell zu Nervensägen.
Und um der Wahrheit gerecht zu werden: Manchmal sind sie das auch.
Da wird Kritik gerne mal oberlehrerhaft formuliert, wenig wertschätzend, gar ausfällig. Oder sogar offensichtlich unsinnig, basierend auf Informationsmangel oder schrägen Verschwörungsfantasien.
Nervensägen nerven.
Und deshalb brauchen wir sie.
Denn nur Kritik führt dazu, dass vermeintlich offensichtliche Wahrheiten hinterfragt werden. Das Schöne ist: Jede Art von Kritik ist dazu brauchbar. Egal, ob rhetorisch fein ziseliert oder plumper Protest.
Entscheidend für deren Nutzen ist nicht die Qualität der Kritik, sondern unser Umgang damit.
Das fällt manchmal schwer. Nervensägen sind keine Sympathieträger*innen.
Aber auch und gerade in Beteiligungsprozessen gilt: Genau darum geht es.
Entscheidungen besser – und damit auch akzeptierbarer – zu machen, indem sie kritisch reflektiert werden.
Wie die Kritik dabei formuliert wird, ist erstens nicht bestellbar und zweitens nicht ausschlaggebend.
Andersherum wird ein Schuh draus: Beteiligung muss nerven. Sonst nützt sie nichts.
Beteiligung so gestalten zu wollen, dass das Nervensägenrisiko minimiert wird, ist verständlich.
Aber es vergibt Chancen.
Dies zu akzeptieren, fällt nicht immer leicht. Aber falls wir einen Wunsch frei hätten, um Beteiligung wirklich gut zu machen. Dann könnte dieser durchaus lauten:
Mehr Nervensägen!
Super Beitrag. Das Positive am Widerspruch kann ich nach 20 Jahren Personalratsarbeit nur bestätigen. Gefühlt aber schwindet in der Gesellschaft die Bereitschaft Widerspruch als positiv anzunehmen. Leider wird durch fundamentalkritisch agierende (destruktive) Gruppen die Kritik mehr vernichtend als beratend einsetzen der Dialog schwieriger. Der Grundkonsens schwindet. Es gilt genau hinsehen.