Ausgabe #67 | 15. April 2021
Der gute Opportunist
Aktuell arbeitet sich die geschätzte Redaktion des SPIEGEL wieder einmal am Phänomen Markus Söder ab. In einem gestern erschienenen Gastbeitrag untersucht der Politikwissenschaftler Joachim Behnke die Frage, ob Söder charakterlich für das Amt des Bundeskanzlers geeignet ist. Er kommt zum Schluss, er sei es nicht.
Denn er sei ein Opportunist.
Und damit liegt er gewaltig daneben.
Die Diagnose stimmt schon: Söder richtet seine Politik so opportunistisch aus, wie kaum ein anderer Spitzenpolitiker und es gibt eine Menge Argumente für ihn, die sich auf den zweiten Blick in Luft auflösen. Er ist alles andere als der beste Corona-Manager der Republik. Sein Bundesland Bayern kommt unter dem Strich viel weniger gut weg als selbst Nordrhein-Westfalen, in dem der immer wieder irrlichternde Armin Laschet regiert – den übrigens auch viele als Opportunisten bezeichnen.
Im Grunde liegt der Unterschied zwischen den beiden Kanzlerkandidaten-Kandidaten nur darin, dass Söder Opportunismus besser kann als Laschet. Beide wechseln Ansichten, Meinungen, Argumentationen. Beide liegen auch mal daneben. Aber Söder ist definitiv derjenige von den beiden, der nach einer politischen Spitzkehre am schnellsten wieder die Kontrolle über den neuen Kurs gewinnt. Tatsächlich disqualifiziert ihn das nicht fürs Kanzleramt. Im Gegenteil. Warum?
Weil Opportunismus in einer Demokratie systemrelevant ist.
Tatsächlich gehört ein gewisses Maß an Opportunismus zum unausgesprochenen Grundvertrag einer repräsentativen Demokratie. Wir wählen Politiker*innen auf vier, fünf oder gar mehr Jahre und statten sie teilweise mit erheblicher Machtfülle aus.
Während ihrer Amtszeit haben die Wähler*innen nur minimale Möglichkeiten, ihr Handeln unmittelbar zu beeinflussen. In einer vollständig repräsentativen Demokratie ohne direkte Abstimmungen oder wirksame Beteiligungsstrukturen ist die einzige Leitplanke im Grunde nur die Rechtsstaatlichkeit – und auch die nur eingeschränkt, denn auch die Gesetze werden von jenen gemacht, die wir gewählt haben.
Genau hier kommt der systemische Opportunismus ins Spiel, den eine Demokratie bei den Gewählten produziert.
Bei all ihrer Machtfülle wissen jene, dass sie früher oder später erneut zu einer Wahl antreten müssen. Dann ist der Tag der Abrechnung gekommen. Erneut gilt es, den Wähler*innen zu gefallen, ihre Sympathie, ihr Vertrauen, vor allem ihre Stimmen, zu gewinnen.
Natürlich können kluge Wahlkämpfe, rhetorische Brillanz, umfangreiche Medienpräsenz, eine gut bewältigte Krise zur rechten Zeit, die berühmte Vergesslichkeit der Wähler*innen oder die Angst vor der Konkurrenz am Ende auch dann zu einer Wiederwahl verhelfen, wenn zuvor oft gegen den Wählerwillen Politik gemacht wurde. Doch das Risiko einer vernichtenden Wahlschlappe ist hoch.
Also sind Politiker*innen in einer repräsentativen Demokratie gut beraten, bei jeder Entscheidung auch zu berücksichtigen, wie es bei den eigenen Wähler*innen ankommt.
Sie werden zu Opportunist*innen. Und im Grunde ist das gut so.
Allerdings nur dann, wenn unsere Demokratie eine aktive ist. Denn es liegt allein an uns Wähler*innen, dafür zu sorgen, dass unsere Politiker*innen die „richtigen“ Opportunitäten zur Auswahl haben.
Das ist zu wichtig, um es Meinungsforscher*innen und Lobbyist*innen zu überlassen. In einer modernen, vielfältige Demokratie haben wir dafür bessere, demokratischere Tools.
Aktive Bürgerbeteiligung ist das Mittel der Wahl. Auf allen Ebenen zu allen Themen in allen Formaten. Je mehr Beteiligungsprozesse Politiker*innen in Diskurse verwickeln, desto leichter fällt es diesen, die demokratischen Opportunitäten zu „lesen“ und ihr Handeln daran zu orientieren. Das setzt uns Demokrat*innen natürlich unter einen gewissen Druck. Denn das Prinzip Opportunismus funktioniert nur, wenn die Wähler*innen sich nicht darauf beschränken, alle paar Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel zu machen – oder sogar nicht einmal dazu bereit sind.
Denn wenn die Wähler*innen ausfallen, werden die politischen Entscheidungen eben an anderen Akteuren ausgerichtet. Eine Demokratie, in der die Menschen sich bei und zwischen Wahlen passiv zurücklehnen, wird eine Demokratie der Lobbyist*innen.
Und geht zugrunde.
Demokratische Politiker*innen dürfen, ja sollen also durchaus opportunistisch denken. Das tun sie heute schon. Aktuell lernen viele von ihnen jedoch noch etwas für unsere Demokratie relativ Neues: Sie werden zunehmend zu Fans von Beteiligung. Denn diese hilft dabei, auch zwischen Wahlen demokratische Politik immer wieder neu auszurichten. Deshalb denken moderne demokratische Politiker*innen opportunistisch und partizipativ.
Beides gehört in einer starken, vielfältigen, resilienten Demokratie zusammen.