Ausgabe #100 | 2. Dezember 2021
Sie trauen sich – und uns
Heute Morgen bin ich ziemlich erschrocken. Mein Kalender forderte, wie jeden Donnerstag, unnachgiebig und unübersehbar „Newsletter schreiben“.
Im Normalfall löst das bei mir keinen Schreck aus, sondern eher Vorfreude. Beim zweiten Kaffee des Tages blättere ich dann in meiner Themendatenbank. Überraschenderweise wächst sie tatsächlich Monat für Monat immer noch weiter an. Denn gerade mal einem Newsletter pro Woche stehen bis zu einem Dutzend Vorschläge und Inspirationen aus dem Kreis der Leser*innen gegenüber.
Heute Morgen jedoch war es die Zahl, die neben der Erinnerung aufpoppte, die mich verunsichert hat: 100.
Was vor zwei Jahren als kurzzeitiges Experiment begann, hat sich zu einem festen Teil meiner Wochenplanung entwickelt. Exakt 100 Ausgaben später steigt die Zahl der Leser*innen immer noch. Woche für Woche gibt es positive Rückmeldungen.
100 Ausgaben von demokratie.plus – Zeit, einmal laut und deutlich DANKE zu sagen. An Sie, liebe Leser*innen, liebe Demokratieförderer*innen und Demokratieliebhaber*innen.
Ohne Sie gäbe es diesen Newsletter längst nicht mehr. Erst wollte ich nach 10 Ausgaben aufhören, dann nach einem Quartal, nach einem Jahr. 100 Ausgaben waren nie vorstellbar. Und doch sind wir heute dort angekommen.
Die gute Nachricht lautet: Die Reise geht weiter. Solange die Resonanz so positiv bleibt, wird es jeden Donnerstag eine neue Ausgabe von demokratie.plus geben. Denn wir haben die beiden wichtigsten Voraussetzungen: Leser*innen und Themen. Und von beidem reichlich. Und ich habe ein Angebot für Sie. Eines, das Sie ablehnen können: Immer wieder haben Leser*innen mir geschrieben und sich demokratie.plus (auch) als Podcast gewünscht.
Doch Zuschriften sind nicht repräsentativ. Und repräsentativ ist eh nicht das Maß aller Dinge. Deshalb habe ich eine kurze Meinungsumfrage für Sie eingerichtet. Sie können ab sofort eine Woche lang abstimmen: Soll demokratie.plus künftig auch parallel als Podcast erscheinen?
Ihre Meinung zählt. Stimmen Sie jetzt HIER mit nur einem Klick ab.
Nun aber zu dem, was diesen Newsletter ausmacht. Auch in der 100. Ausgabe werfen wir einen Blick auf die Praxis und Perspektiven der politischen Teilhabe. Da wir ein Jubiläum feiern, brauchen wir heute ein positives Thema. Also betrachten wir den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung.
Wie immer waren fast überall die Hoffnungen größer als das Ergebnis einlösen konnte oder wollte. Der Kampf gegen den Klimawandel wird mehr brauchen, als die Koalition zu Papier gebracht hat. Die Grundsicherung der Ärmsten unter uns bekommt erstmal nur ein neues Etikett. Die Verkehrspolitik ist eher antik. Und so könnte man in fast jedem Politikfeld murren: zu wenig Innovation, zu wenig Mut, zu wenig Konkretes.
Und doch ist dieser Koalitionsvertrag ein grundlegender Epochenwandel.
In der Beziehung von Politik und Bürger*innen. Man kann es leicht überlesen, denn auch hier steht wenig Konkretes. Bürgerräte werden zwar benannt, aber so ganz klar wird nicht, wann, wie und mit welcher Wirkung sie Wirklichkeit werden.
Aber darum geht es auch nicht.
Koalitionsverträge sind kein Arbeitsprogramm. Dieser ist es noch weniger als seine Vorgänger. Er ist Ausdruck einer Haltung. Und das ist gut so. Gute Beteiligung ist immer in erster Linie von der Haltung der Beteiligenden und weniger von kleinteiligen Formatfragen geprägt. Das gilt auch für langfristiges Regierungshandeln.
Und da stehen in diesem Vertrag Dinge, die wir vorher so nie gelesen haben. Er definiert eine neue Haltung zum Verhältnis von Regierenden und Regierten. Und das in ausnahmsweise großer Klarheit. Waren Regierungsprogramme und Koalitionsverträge bislang stets vom Gedanken geprägt, dass die Regierenden es mehr oder weniger gut „für uns regeln“, so kommt nun ein neuer Ansatz ins Spiel.
- Erstmals sollen konkrete Fragestellungen nicht mehr nur im Parlament verhandelt werden, sondern von Bürger*innen. Aus Alleinvertretungsanspruch der Gewählten wird also Bereitschaft zum Dialog und zur Beratung.
- Erstmals soll es ein Gesetzgebungsportal geben, in dem Gesetzesentwürfe öffentlich von allen Bürger*innen kommentiert werden können. Was bislang nur Lobbyist*innen möglich war, wird nun demokratisiert.
- Erstmals gibt eine Regierung zu, dass sie Beteiligungskompetenzen erwerben muss. An höchster Stelle, im Bundeskanzleramt soll „Kompetenz der Bundesregierung zur Unterstützung dialogischer Bürgerbeteiligungsverfahren“ aufgebaut werden.
Aus diesen Sätzen sprechen Dialogbereitschaft und Demut, Akzeptanz von bürgerschaftlicher Kompetenz und die Erkenntnis, dass es mit den althergebrachten politischen Prozessen allein nicht mehr geht.
Das regierungsunabhängige Kompetenzzentrum Bürgerbeteiligung hat den Koalitionsvertrag in einer lesenswerten Stellungnahme ebenfalls untersucht. Es versteht den Koalitionsvertrag darin als „deutliches Bekenntnis zur Beteiligung.“ Und empfiehlt konkrete Maßnahmen zur Umsetzung.
Genau das ist es. Es ist kein Beteiligungsprogramm, aber es ist eine neue Haltung. Und das öffnet Türen.
Diese Entwicklung ist Ergebnis von über 10 Jahren flächendeckenden Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung, von der Erkenntnis, dass Demokratie nicht „einfach da“ ist, sondern gelebt werden muss, um zu überleben. Sie ist geprägt davon, dass wir erstmals eine hohe Zahl von Abgeordneten in allen Fraktionen haben, die reale Erfahrungen in Beteiligungsprozessen sammeln konnten.
Sie ist auch ein Ergebnis von intensiver Überzeugungsarbeit durch Organisationen wie Mehr Demokratie e.V., Thinktanks wie dem Berlin Institut für Partizipation, Netzwerken wie der Allianz Vielfältige Demokratie und den vielen positiven Beispielen und schmerzhaften Lernprozessen, die kommunale Beteiligungspraktiker*innen Tag für Tag vor Ort generieren.
mehrHaltungswandel entsteht nicht im luftleeren Raum. Die neue Haltung der kommenden Regierung besteht – natürlich – zunächst einmal nur aus schönen Worten. Erst wenn Taten folgen, werden wir sehen, ob dieser Wandel wirklich gelebt wird.
Dazu bedarf es weiterer Anstrengungen von uns allen. Ein Selbstläufer wird das nicht.
Doch die neue Haltung zeigt: Unsere neue Regierung traut sich, neue Wege zu erproben. Und vor allem: Sie traut uns, den Bürger*innen. Das ist für Regierungen nicht immer üblich. Die Erfahrungen in der Corona-Krise hätten auch zu anderen Ergebnissen führen können. Deshalb ist diese neue Haltung, so nötig sie auch ist, dennoch mutig.
Die Chance ist da. Und sie ist klar. Deshalb merken wir uns den zentralen Satz aus dem Koalitionsvertrag. Erinnern wir uns – und in den kommenden Jahren unsere Repräsentant*innen – immer wieder daran. Er ist ein Versprechen:
„Uns leiten die Prinzipien offenen Regierungshandelns – Transparenz, Partizipation und Zusammenarbeit.“
So sei es.