Ausgabe #101 | 9. Dezember 2021
Engagement ohne Amt
Mit Begriffen ist das so eine Sache. Nehmen wir zum Beispiel den wunderschönen Begriff der Selbstwirksamkeitserfahrung.
Mit ihm ist es ähnlich wie mit der Nachhaltigkeit. Beide Wörter werden gerne verwendet, doch sobald sich zwei Menschen darüber unterhalten, ist die Chance groß, dass sie verschiedene Dinge darunter verstehen.
Wenn Menschen dasselbe sagen, aber etwas Unterschiedliches meinen, sorgt das regelmäßig für Irritationen und Missverständnisse. Oft klärt sich das im Verlauf der Debatte auf. Dann ist es reparabel.
Viel problematischer ist das Gegenteil: Wenn Menschen verschiedene Begriffe verwenden, aber dasselbe meinen. Solche Verwirrungen mäandern oft Ewigkeiten durch ganze gesellschaftliche Debatten, verhindern Erkenntnisse und münden in verheerende Strategien – ohne dass die damit verbundenen Konflikte bewusst werden.
Klingt abstrakt?
Machen wir es konkret. Sprechen wir einmal über Engagement und Ehrenamt. Aber nicht so, wie die neue Bundesstiftung gleichen Namens. Sie heißt tatsächlich „Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt“ und schreibt in ihrer Selbstdarstellung:
„Ziel der Stiftung ist es, dazu beizutragen, ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement in Deutschland zukunftssicher zu machen. Daher fördert sie Innovationen – insbesondere im Bereich der Digitalisierung, stärkt Engagement – und Ehrenamtsstrukturen und vernetzt Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.“
So zieht sich das weiter: Stets wird „Engagement und Ehrenamt“ in einem Atemzug genannt, als Synonym sozusagen. Das ist wenig hilfreich, weil es eine wichtige Differenzierung verkleistert, die wir erkennen müssen, um zu verstehen, warum die Entwicklung in Deutschland so ist, wie sie ist.
Das Motiv für die Gründung dieser Stiftung ist, laut Politik, „Die Stärkung unserer Demokratie“. Denn die hat schon lange Akzeptanzprobleme. Genau so, wie offenbar immer weniger Menschen bereit sind, sich für ein Ehrenamt zur Verfügung zu stellen. Beide Entwicklungen verlaufen parallel. Doch Korrelation ist noch lange keine Kausalität. Das eine muss nicht zwangsläufig die Folge des anderen sein.
Und selbst, wenn es so wäre: Die eine Entwicklung zu bekämpfen, löst noch lange keine umgekehrte Kausalität aus. Ein doppelter Denkfehler also? Eher ein dreifacher. Denn hinzu kommt eben die Gleichsetzung von Ehrenamt und Engagement. Ein typisch deutsches Phänomen. Und nicht ganz unerklärlich.
Tatsächlich ist Deutschland ein Land der Vereine. Sie sind seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland die prägende, nahezu ausschließliche Form von Engagement.
Wir haben in Deutschland über drei Millionen Menschen, die ehrenamtliche Vorstandsfunktionen ausüben, die Zahl der Menschen, die ein Ehrenamt bekleiden, liegt bei über 10 Millionen.
In Deutschland denken wir Ehrenamt und Engagement fast immer synonym. Bei uns ist Engagement nach wie vor für viele nur im Verein vorstellbar. Dort ist es strukturiert, oft mit formellen Wahlfunktionen oder Beauftragungen verbunden und mit Titeln versehen. Ob Vorsitzende oder Schriftführerin, Kassiererin oder Übungsleiter: Ehrenamt in Deutschland hat Funktionen.
Das ist in vielen anderen Gesellschaften völlig anders. In den USA zum Beispiel wird lokale soziale Arbeit fast ausschließlich über sogenannte „community foundations“ organisiert. Oft arbeiten in ihrem Kontext Hunderte, ja Tausende von Engagierten in Suppenküchen und Notunterkünften, Tagesstätten und Bildungsangeboten – ohne formelle Funktion, ohne Wahlamt, ohne Titel, und ohne langfristige Verpflichtung oder Verbindlichkeit.
Dort ist das Verhältnis von Ehrenamt und Engagement ein anderes als bei uns. Der Unterschied ist klarer: Ehrenamt ist ein Amt, gewählt oder bestellt, mit klaren Titeln, Rechten und langfristigen Verpflichtungen.
Engagement ist der Einsatz für andere, für das Gemeinwohl, ob spontan oder verbindlich, ob in kleinstem Umfang oder nahezu in Vollzeitbeschäftigung.
Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen Engagement und Ehrenamt. In Deutschland waren beiden lange überwiegend deckungsgleich. Deshalb tun wir uns heute so schwer mit der Differenzierung.
Warum ist sie aber so wichtig? Um das zu verstehen, müssen wir über einen dritten, ebenfalls verwandten Begriff sprechen: Beteiligung.
Gemeint ist damit die Mitwirkung an Entscheidungsprozessen. Dazu gehören Wahlen, aber auch direktdemokratische Entscheidungen, Abstimmungen auf Mitgliederversammlungen, und vor allem die vielen neuen Formen der Bürgerbeteiligung, die in den letzten Jahren massiv zugenommen haben. Beteiligung ist mit dem Anspruch auf Wirksamkeit verbunden – aber ohne die Verbindlichkeit eines Ehrenamts und ohne den zeitlichen Einsatz, den Engagement erfordert.
Tatsächlich braucht Beteiligung in vielen Fällen nicht einmal eine formelle Mitgliedschaft. Und genau hier beginnt das Problem für das deutsche Vereinswesen.
Der Trend in unserer Gesellschaft geht eindeutig weg von der Bereitschaft, sich formell zu binden oder auch nur ein langfristiges Engagement zuzusagen, hin zur Erwartung an wirksame Beteiligung und die Möglichkeit zur Ausübung von spontanem, oft unverbindlichem Engagement. Verkürzt gesagt:
- Das Ehrenamt wird unattraktiver,
- das Engagement wird spontaner,
- die Beteiligung nimmt an Umfang und Bedeutung zu.
Das ist ein Problem für viele Vereine, die nicht nur an Mitgliederschwund leiden, sondern noch dazu auch immer schwieriger aus den verbliebenen Mitgliedern heraus Ehrenämter besetzen können.
Auf gesellschaftlicher Ebene versuchen wir gegenzusteuern. Deshalb gibt es die besagte Stiftung. Deshalb wird sie auch von der neuen Bundesregierung noch einmal besser finanziell ausgestattet. Aber wir wissen im Grunde: Gesellschaftliche Trends kann man nicht wegkaufen. Denn tatsächlich engagieren sich nach wie vor Millionen Bürger*innen unseres Landes in unterschiedlichen Strukturen. Nur eben zunehmend anders: spontaner, unverbindlicher, aber genauso mit dem Verlangen nach Selbstwirksamkeit.
Wir „retten“ unsere Demokratie nicht, indem wir uns die guten alten Zeiten der guten alten Vereine zurückwünschen – sondern indem wir, insbesondere den jungen Menschen Angebote und Möglichkeiten bieten, sich so zu engagieren, wie sie können und wollen.
Vereine werden in Deutschland immer wichtig sein. Aber Ehrenamt ist eben nicht das gleiche wie Engagement oder Beteiligung. Die Stärke unserer Gesellschaft wird jeden Tag neu erarbeitet. Von Ehrenamtlichen, von Engagierten, von Beteiligten – und Beteiligenden.
Und gar nicht mal so selten von allen zusammen.
Danke, Herr Sommer, dass Sie aussprechen, dass Engagement auch vielfältig – und übrigens immer schon, wenn auch mit steigender Tendenz – außerhalb etablierter Strukturen stattfindet. Außer-organisationales Engagement kann v.a. viel agiler und bedarfsorientierter auf spontane, kurzfristige, zeitlich beschränkte oder neuartige Herausforderungen reagieren, wie beispielhaft an den spontanen Fluthilfe-Engagements zu beobachten war.
Gerne möchte ich noch den Blick auf die finanziellen Aspekt zivilen Engagements lenken: „Ehrenamt“ wird oft mit pro-bono Engagement synonym verstanden. Doch da gibt es enorme Unterschiede, denn oft wird in sozialen Organisationen ja durchaus – wenn auch vielleicht nicht marktüblich – ein Entgelt gezahlt für den Einsatz, dies auch ermöglicht durch entsprechende öffentliche Förderung, die überhaupt erst durch die Institutionalisierung als Rechtsträger möglich wird.
Außerorganisationales Engagement hingegen leidet darunter, dass eine Vergütung oder öffentliche Förderung nicht möglich ist und zudem die Anerkennung mangels Sichtbarkeit in der Gesellschaft gering ausfällt. Hier besteht m.E. eine Notwendigkeit nachzubessern, um für Fairness zu sorgen, das gesellschaftliche Anreizsystem zukunftsfähig auszurichten und die Wahrnehmung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben zu sichern.
Ein kluger Text, auch wenn viele den wahrscheinlich nicht gerne lesen werden. Die Notwendigkeit der Veränderung ist vielen Vereinen und deren Vorständen nicht klar, den meisten auch nicht genehm. Denn Veränderung empfinden viele als Bedrohung, nicht als Chance.
Diesen Text fühle ich richtig mit. Er trifft mein Herz. Wenn wir von der Generation 20+ ausgehen, würde ich sagen: Versuchen wir das alles in einen Topf zu werfen. Die Beteiligung, das Engagement und das Ehrenamt. Und dann organisieren wir zentral. Bingo! Das ist es, was wirklich gebraucht wird. Und es ist so einfach, alles unter einen Hut zu bringen😊 Nicht nur die jungen Leute wollen selbst entscheiden, wann sie sich engagieren und keine Vorgaben von Institutionen. Grüße Manuela Schleith