Ausgabe #104 | 30. Dezember 2021
Schummeln ist leicht
Alte Männer erzählen gerne aus ihrer Jugend. Das ist für die Zuhörer meist nur begrenzt interessant. Deshalb mache ich es kurz. Versprochen. Und es geht auch gar nicht um meine Jugend, sondern um einen anderen jungen Protagonisten.
Denn der war cleverer als ich.
Wir wohnten beide im selben Viertel, gingen in dieselbe siebte Klasse. Er zum ersten, ich zum zweiten Mal. Aber beide gehörten wir zur ersten Generation von Computer-Kids.
Das war lange vor dem Internet, als Daten noch auf Disketten gespeichert wurden, kein Mensch Apple kannte und IBM noch der Superstar der Digitalszene war. Auch damals schon sollten die Computer offiziell die Effizienz in Büros erhöhen. Die mit Abstand größte Zahl an Disketten war jedoch mit Computerspielen vollgestopft. Sie hießen „Space Invaders“ oder „Galaxian“, waren grafisch unterirdisch und frustrationsreich.
Mein Kumpel und ich konnten programmieren und entwickelten selbst Spiele. Ich war der bessere Programmierer, er aber der cleverere Kerl. Zwei Jahre später gelang es mir, eines meiner Spiele an einen großen Hersteller zu verkaufen. Das machte ich schlagartig zum reichsten Schüler unseres Gymnasiums. Mein Freund allerdings entdeckte zeitgleich eine Marktlücke. Denn die Spiele wurden immer komplexer, die Autoren bauten oft – insbesondere für die Testphase – Abkürzungen und Codes ein, die einen schneller zum nächsten Level brachten.
Programmierer nannten sie „Cheats“. Mein Kumpel kannte alle Cheats aus meinem Spiel. Er schrieb sie auf und vertickte die Kopien an sein Umfeld. Das lief so gut, dass er bald zu einem führenden Autor von so genannten „Cheatbooks“ wurde, die es zu so ziemlich jedem neuen Computerspiel gab. Oft wurde das Spiel selbst raubkopiert und stattdessen eine stolze Summe für das Cheatbook hingelegt.
Nur ein paar Jahre später hatte mein Freund mehr Geld mit seinen Cheatbooks verdient als ich mit meinen Computerspielen.
Bis heute ist es mir ein Rätsel, wieso jemand ein Computerspiel kauft, um sich dann mit Cheats um Stunden des Spielvergnügens zu bringen.
Andererseits: Erschreckend hoch sind auch die Quoten der Gedopten bei Freizeit-Marathons.
Eine legale oder illegale Abkürzung zu nehmen, ist für viele Menschen einfach zu verlockend. Es ist besonders bedauerlich, wenn es eigentlich um den Weg geht, nicht nur um das Ziel.
Das gilt nicht nur für Sport und Computerspiele, sondern ganz besonders auch für demokratische Prozesse.
Allein im vergangenen Monat landeten drei unterschiedliche Anfragen bei unserem Institut. In allen dreien ging es darum, dass eine Kommune bzw. eine Behörde Leitlinien für Beteiligung einführen wollte.
Eine Kommune wollte sich dabei beraten lassen. Eine gute Idee. Die anderen beiden Interessenten wollten wissen, wie schnell und zu welchem Preis wir ihnen Leitlinien schreiben könnten. Eine weniger gute Idee.
Leitlinien für Beteiligung sind etwas Wunderbares. Sie helfen Institutionen dabei, Beteiligung zu etablieren und zu verstetigen. Nur so entsteht Beteiligungskultur. Das heißt: Ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Praxis von Beteiligung.
Das aber kann man nicht bestellen oder verordnen. Es kann nur entwickelt werden – und zwar im Dialog zwischen Beteiligenden und Beteiligten.
Entscheidend ist am Ende nicht der Wortlaut einer Leitlinie, sondern der Weg dahin und damit auch die Relevanz für die Praxis.
In Heidelberg, der ersten deutschen Stadt mit Leitlinien für Bürgerbeteiligung dauerte dieser Prozess Jahre.
In Potsdam, einem anderen leuchtenden Beispiel für intensive Beteiligung, glaubte man zunächst, eine Abkürzung nehmen zu können. Ein kleines Expertengremium formulierte hinter verschlossenen Türen im Auftrag des Bürgermeisters kluge, aber eben partizipationsfrei entstandenen Leitlinien.
Die sollten dann als Beschlussvorlage in die Stadtverordnetenversammlung – und fielen krachend durch. Der Prozess begann noch einmal von vorn, diesmal mit vielen Beteiligten. Heute gilt das dabei entstandene „Potsdamer Modell“ international als mustergültig.
Ob Bürgerbeteiligung oder Computerspiel: Abkürzungen sind verlockend, aber sinnfrei. Cheatbooks helfen nicht wirklich.
Der Weg ist nicht das Ziel. Aber ohne Weg ist das Ziel weniger wert.
Leitlinien sind eine wunderbare Sache, um Beteiligung zu orchestrieren, zu optimieren, zu stabilisieren. Und zwar so, wie es sich vor Ort zu den Gegebenheiten, Interessen, Kulturen und Ressourcen passt.
Ob Leitlinien „gut“ oder „schlecht“ sind, entscheidet letztlich weniger ihr Wortlaut als der Prozess ihrer Entstehung. Wie unterschiedlich sie dann letztlich ausfallen können, sieht man sehr gut in dieser Zusammenstellung von Leitlinien, die das Netzwerk Bürgerbeteiligung laufend ergänzt.
Schauen Sie ruhig rein, lassen Sie sich inspirieren, aber bitte: Schreiben Sie nicht ab. Ob das Abenteuer auf dem Computerbildschirm stattfindet oder im wahren Leben: Schummeln bringt Sie um den ganzen Spaß.