#119 | Die Scheindemokratie

Ein Drittel der Deutschen glaubt, in einer „Scheindemokratie“ zu leben. Klingt überraschend. Ist es aber nicht.

Ausgabe #119 | 14. April 2022

Die Scheindemokratie

Was macht eine Demokratie zur Demokratie? Was braucht sie, um sich Demokratie nennen zu dürfen? Wir Politikwissenschaftler*innen haben Antworten darauf. Aber um die soll es heute nicht gehen.

Sondern um die Einschätzung der Menschen, die in unserer Gesellschaft leben. Denn nur um sie geht es am Ende.

Was nützt einem eine Demokratie, wenn sie nicht als solche erlebt wird?

Ein merkwürdige Frage? Vor allem: eine hoch aktuelle.

Denn nach einer brandneuen Umfrage glaubt fast ein Drittel der Deutschen, in einer „Scheindemokratie“ zu leben.

Und sie haben Recht.

Immerhin zwei Drittel der Deutschen wähnt sich in einer „echten Demokratie“.

Und auch sie haben Recht.

Wie das sein kann? Schauen wir uns die Studie einmal kurz genauer an. Genauer als der SPIEGEL zum Beispiel, der in seinem Beitrag dazu zwei problematische Eindrücke vermittelt.

Erstens könnte man glauben, die Mehrheit jener, die Deutschland als „Scheindemokratie“ sieht, seien Rechtsradikale und Verschwörungsgläubige.

Zweitens entsteht der Eindruck, alle jene, die der These von der „Scheindemokratie“ zustimmen, seien Antidemokrat*innen.

Beides gibt die Studie so nicht her.

Ja, es leben gefährliche Nazis, wirre Reichsbürger und eine Menge schlicht Bekloppte in unserem Land. Das Problem der „Scheindemokratie“ nur an diesen Gruppen festzumachen, ist verführerisch, aber gefährlich.

Denn es verführt uns dazu, die naheliegende Frage nicht zu stellen, nach der diese Studie geradezu ruft.

Wie kommt es, dass Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte, die sich selbst als Demokrat*innen sehen, glauben, die Demokratie in unserem Land sei nur scheinbar – und nicht real?

Haben die in Gesellschaftskunde nicht aufgepasst oder zu viel Russia Today gesehen? Möglich. Aber wenn dumpfbackige russische Propaganda oder mangelndes staatskundliches Fachwissen ausreichen, um unsere Demokratie nicht mehr als solche zu erkennen, kann es mit dem Demokratiebewusstsein nicht weit her sein.

Stellen wir uns also die einfache Frage: Was macht Demokratie für Bürger*innen letztlich aus?

Ist es die Möglichkeit zur Teilnahme an Wahlen? Dann wären die Ergebnisse der Studie absolut naheliegend: Über 83 Millionen Menschen leben in unserem Land. Nur rund 60 Millionen davon sind wahlberechtigt. Ein Viertel der Menschen sind zu jung oder haben den falschen Pass.

Von denen, die wählen dürften, sind über ein Viertel Nichtwähler*innen.

Viele von ihnen haben in ihrem Leben noch nie gewählt. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Manche verachten tatsächlich unsere Demokratie, andere haben das Wählen nie gelernt, nicht wenige können die komplexen Wahlregeln z.B. bei Kommunalwahlen nicht verstehen oder die Wahlunterlagen schlicht nicht lesen.

Unter dem Strich wählt die Hälfte der Menschen in unserem Land nicht.

Viele gehen wählen, haben aber noch nie erlebt, dass die von ihnen präferierte Partei auch nur einmal gestaltungsfähig an die Regierung gekommen wäre. Das betrifft nicht nur die Wähler*innen der AfD, sondern auch jene diverser, durchaus demokratischer Kleinparteien. Es betrifft die Wähler*innen der Linkspartei in allen westlichen Bundesländern, aber auch gestandene Sozialdemokrat*innen, wenn sie zum Beispiel das Pech haben, in Bayern zu leben.

Für all diese Menschen ergibt sich aus ihrem Wahlrecht keine wirklich erlebte Wirksamkeit.

Am Ende sind es kaum mehr als ein Viertel der Menschen in unserem Land, die diese Wirksamkeit (alle paar Jahre) wahrnehmen.

Für die übergroße Mehrheit der Menschen sind Wahlen etwas, was sie mit Wahlplakaten, Hochrechnungen und Fernsehdebatten verbinden. Die Auswirkungen demokratischer Wahlen sind für sie real, ihre eigene Wirksamkeit in der Demokratie ist es nicht.
Der Politikbetrieb ist für sie etwas zum Zusehen, ist Konsumartikel, Show. Also mehr Schein als Wirklichkeit. Keine selbst erlebte, aktiv mitgestaltete Demokratie, sondern eine zum Zusehen. Also eine nur „scheinbare“.

Es stimmt, theoretisch könnten Teile dieser Gruppe an Wahlen teilnehmen, sich in Parteien organisieren, ja sogar selbst kandidieren. Doch diese theoretische Option verzückt vielleicht uns Politikwissenschaftler*innen, Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Die gute Nachricht lautet jedoch:

Das macht nichts.

Denn Demokratie definiert sich beileibe nicht nur über die (für die meisten Menschen immer nur) theoretische Möglichkeit, Veränderungen über Wahlen zu bewirken.

Demokratie ist vor allem lebendiger Diskurs, alltägliche politische Debatte und die Chance, in vielen Aspekten des eigenen, realen Lebensumfeldes wirksam zu werden.

Demokratie ist keine Wahltechnik, sondern eine Gesellschaftsform. Und Gesellschaft ist weit mehr als alle vier Jahre einen Wahlschein abzugeben. Gesellschaft findet täglich statt. Und das heißt:

Auch Demokratie muss täglich stattfinden.

Das kann sie auch. In Schulen können wir Gesellschaftskunde unterrichten. Wir können aber auch Wählen lernen. Und wir könnten Demokratie praktizieren.

Denn demokratische Kompetenz ist keine Frage des Lernens, sondern der Praxis.

Wenn wir also das nächste Mal von einer solchen Studie lesen, dann berücksichtigen wir diese Hintergründe.

Denn längst nicht alle, die persönlich eine gefühlte „Scheindemokratie“ beklagen, tun dies, weil sie keine Demokratie mögen. Manchmal ist das Gegenteil der Fall. Nicht nur für jene, sondern auch für viele von denen, die unsere Demokratie gerade nicht so attraktiv finden, gilt:

Möglicherweise bieten wir ihnen einfach zu wenig demokratische Alltagserfahrungen an?

Mehr Demokratie ist noch immer das beste Mittel, um mehr Demokrat*innen zu generieren.

Und darum geht es.

Das ist übrigens auch der Grund, warum wir mehr und mehr Bürgerbeteiligung in unserem Land organisieren. Noch immer zu wenig, aber immerhin: immer mehr.

Und immer besser.

Aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Für einen anderen Newsletter.

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