Ausgabe #121 | 28. April 2022
Keine Angst vor Zukunftsangst
Wenn Journalist*innen Politik erklären, wird es schnell schräg. Das hängt weniger mit der Kompetenz der Branche zusammen als mit den Eigenheiten von Medien.
Journalist*innen erzählen Geschichten. Wenn sie gut sind, erzählen sie gute Geschichten. Gute Geschichten aber haben immer eine klare Story, und die besteht zumeist aus einer Abfolge von Kausalitäten.
Weil die SPD sich seit Willy Brandt in der russischen Seele getäuscht hat, tut sie sich schwer damit, sich heute klar gegen Putin zu wenden. Weil sie sich schwer damit tut, mag sie keine schweren Waffen liefern. Weil sie keine schweren Waffen liefern mag, ist der Kanzler gerade so schweigsam.
Tolle Geschichte. Alles erklärt. Könnte sogar stimmen. Zumindest zum Teil.
Die Wahrheit ist allerdings, wie immer, komplizierter. Motive und Handlungen sind selten monokausal.
Ähnliches erleben wir, wenn die Medien uns erklären, warum so viele Menschen in so vielen Demokratien undemokratische Parteien wählen. In Deutschland erklären sie uns die AfD immer wieder, und immer wieder anders.
Mal ist es die „Angst vor Fremden“ (ProSieben), mal ist es die „Angst vor Modernisierung“ (Deutschlandfunk), gerne auch mal die „Angst vor sozialem Abstieg“ (ZEIT) oder gleich gar „Zukunftsängste“ an sich (taz).
Und tatsächlich ist das ein Teil der Wahrheit. Aber eben nur ein Teil.
Die Bereitschaft, nicht demokratische Parteien zu wählen, hat etwas mit Ängsten zu tun. Vor allem aber damit, wie eine Demokratie mit Ängsten umgeht, welche Antworten sie darauf hat. Es geht um die Frage, was sie Menschen anbietet, die Angst haben.
Was bei Menschen, die vor etwas Angst haben, erfahrungsgemäß nie hilft: Appelle.
„Hab‘ keine Angst“ hat noch nie geholfen. Denn was für den einen kein Problem darstellt, ist für den anderen subjektive Realität. Möglicherweise ist der Grund für die Angst nicht real, die Angst also „unbegründet“. Doch das ändert für Betroffene gar nichts daran: Deren Angst ist real.
Alles klar also. Und ganz einfach: Unsere moderne Demokratie ist divers. Sie ist liberal, sie öffnet sich Fremden. Vor den Fremden habe ich Angst. Also ist die Demokratie schlecht und ich wähle beim nächsten Mal eine nichtdemokratische Partei. Zack. Fertig.
Und falsch.
Fragt man zum Beispiel AfD-Wähler*innen nach ihren Motiven, dann hört man so gut wie nie demokratiefeindliche Sätze. Eher werden unsere politischen Eliten als undemokratisch gesehen, für sich selbst aber eine demokratische Haltung formuliert.
Nun mag es sein, dass populistische Politiker*innen blendende Manipulator*innen und perfide Strateg*innen sind. Alle ihre Wähler*innen aber sind es sicher nicht. Sie sind auch nicht doof. Sie sehen sich mehrheitlich als Demokrat*innen. Es ist nur so: Unsere Demokratie ist nicht die ihre.
Und das ist nachvollziehbar.
Um das zu verstehen, müssen wir uns genauer anschauen, was Angst mit Menschen macht. Psycholog*innen haben Angst bei Mensch und Tier intensiv und tiefgründig erforscht. Es gibt viele Parallelen und Unterschiede. Angst macht vieles mit Menschen. Zwei Wirkungen interessieren uns hier besonders.
Angst macht unempathisch. Wer Angst hat, kann sich kaum noch in andere Menschen hineinversetzen. Er stumpft ab, weil er abstumpfen muss, um mit seinen Ängsten leben zu können.
Deshalb funktionieren zum Beispiel bei der AfD auch Parolen, die von einer erschreckenden Kälte gegenüber anderen Menschengruppen zeugen.
Sätze wie „Am besten das Pack zurück nach Afrika prügeln“ oder „Solche Menschen müssen wir selbstverständlich entsorgen“ funktionieren bei Menschen mit Empathieverlust, denn sie hören sie anders. Sie hören nicht Menschenverachtung, sondern konsequente Lösungen als Antwort auf ihre Ängste.
Ähnlich verheerend wirkt die zweite Folge von Angst: Angst macht passiv.
Die berühmte „Angststarre“ ist auch bei Menschen zu beobachten, die vor lauter Angst keinen Ausweg wissen. Wenn hoch verschuldete Menschen statt auf ihre Gläubiger zuzugehen am Ende nur noch zu Hause auf der Couch sitzen und keine Briefe mehr öffnen, ist das eine Manifestation dieser Wirkung. Angst macht passiv – wenn keine Handlungsmöglichkeit erkannt wird.
Deshalb wirkt Angst in Diktaturen auch potentiell systemstabiliserend. In Demokratien aber potentiell zerstörend. Denn dem Ängstlichen in der Demokratie bleibt immer noch eine Handlung, die im Grunde recht wenig Aktivismus erfordert: Wählen gehen.
Viele ängstliche Menschen tun nicht einmal das. Viele allerdings schon. Und sie wählen eine Partei, die markige, unempathische, radikale Angebote macht und dabei erfolgreich ihre Ängste adressiert.
Wie das funktioniert, machen uns Rechtsradikale in ganz Europa und in vielen anderen Ländern weltweit erfolgreich vor.
Viele Demokratien zeigen uns ebenso eindrücklich, wie man erfolglos dagegen argumentiert. Rassismus und Menschenverachtung bei diesen Parteien anzuprangern, nutzt nichts, denn ihre Wähler*innen sind dafür nicht (mehr) sensibel. Ihre Demokratieverachtung anzuprangern nutzt nichts, denn ihre Wähler*innen können mit unserer Demokratie nichts anfangen, denn sie bietet ihnen nichts.
Dabei wissen wir aus der Angstforschung eines: Passivität ist keine zwangsläufige Reaktion. Sie entsteht nur, wenn keine erfolgreiche Handlungsoption wahrgenommen wird.
Genau hier liegt der Schlüssel: Gerade im Umgang mit Wähler*innen nichtdemokratischer Parteien brauchen wir weniger „Aufklärung“ als Angebote.
Solange wir Demokratie primär als Angebot zur Wahlteilnahme verstehen, setzt sich die Spirale aus Angst und Abgabe von Stimmen für Nichtdemokrat*innen immer weiter fort.
Die Spirale kann erst durchbrochen werden, wenn wir genau diesen Menschen mehr Demokratie als nur den Stimmzettel anbieten.
Es geht um mehr Diskurse, mehr Beteiligung, mehr Streit aber auch mehr Wirksamkeit – weil in diesen Prozessen die realen Ängste auf den Tisch kommen dürfen, weil sie ernst genommen werden, weil über Lösungen gesprochen wird.
Das ist genau jene Art von Handlungsoption, die eine Alternative zur Passivität ist und Populist*innen den Nährboden entzieht. Das erfordert allerdings Ressourcen, Mut und Schmerzbereitschaft bei allen, denen unsere Demokratie am Herzen liegt, denn zu Ende gedacht bedeutet dies:
- Wir brauchen deutlich mehr Beteiligungsangebote, vor allem auf kommunaler Ebene. Was dabei zählt, ist die Zahl der Beteiligten, die zu Themen beteiligt werden, die auch ihre Ängste adressieren.
- Diese Angebote müssen nicht nur Angebote sein, sondern die Menschen mit Ängsten ernsthaft, geduldig und intensiv ansprechen. Vergessen wir nicht: Angst macht nicht automatisch aktiv. Die Herausforderung ist vor allem jene Menschen in Beteiligung zu holen, die NICHT von alleine kommen.
- Wir müssen die Ängste dieser Menschen in den Beteiligungsprozessen nicht nur akzeptieren, sondern bewusst thematisieren. Noch immer gilt ein Beteiligungsprozess als „gelungen“, wenn es wenig Streit und wenig Ärger gab. Das Gegenteil ist leider war: Beteiligungsprozesse sind – im Sinne der Stärkung unserer Demokratie – dann gut, wenn Konflikte auf den Tisch kommen, wenn unempathische Meinungen nicht verurteilt oder wegmoderiet werden, sondern in den Diskurs gelangen.
Diese letzte Herausforderung ist besonders schmerzhaft. Und besonders wichtig. Ohne funktioniert das mit der Demokratiestärkung jedoch leider nicht.
Unser Fazit: Längst nicht alle Wähler*innen von nichtdemokratischen Parteien sind Demokratiefeinde. Wir sind gut beraten, das Gegenteil zu unterstellen: Sie wollen mehr Demokratie, in denen sie und ihre Sorgen eine Rolle spielen.
Das ist ohne Zweifel eine Herausforderung. Aber vor allem: eine Chance.
Wir sollten anfangen, sie zu nutzen.
Verstehe ich voll und ganz und sehe ich genauso. Was bei mir allerdings als eine wichtige Frage bleibt ist: Wie schafft man es bzw. macht man es, dass „unempathische Meinungen nicht verurteilt oder wegmoderiet werden, sondern in den Diskurs gelangen“?
Das ist natürlich eine Herausforderung an die Moderation. Grundsätzlich sollte Moderation in Beteiligungsprozessen immer sehr schnell Argumente von den Argumentierenden trennen, also z.B. alle Argumente zunächst ungewichtet aufschreiben und erst danach gemeinsam Gewichten. Sicher helfen auch Formate, bei denen die Argumente anonym genannt werden, die guten alten Moderationskärtchen auszuteilen ist auch heute noch nicht überlebt. Weniger anonym, aber auch hilfreich bei er gegenseitigen Akzeptanz von Positionen (und gleichzeitig eine Hilfestellung beim Finden wertschätzender Argumente) ist aber auch zum Beispiel die 635-Methode.
Herzlichst, Jörg Sommer