Ausgabe #124 | 19. Mai 2022
Die Masse macht’s
Auch nach der jüngsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erfreuten uns Politikwissenschaftler*innen und Politiker*innen wieder mit höchst unterschiedlichen Interpretationen des Wahlergebnisses und der Wählerwanderungen.
Das ist spannend, manchmal sogar amüsant. Und wieder einmal überdeckt es eine Entwicklung, die tatsächlich Grund zur Besorgnis gibt.
Gerade einmal knapp über die Hälfte der Wahlberechtigten machte von diesem Recht Gebrauch. Mit gerade einmal 55,5 Prozent Wahlbeteiligung wurde erneut ein historischer Tiefstand erreicht.
Gäbe es eine Nichtwählerpartei, wäre sie stärkste Fraktion und würde womöglich sogar knapp die absolute Mehrheit der Landtagsabgeordneten stellen.
Erstaunlich, dass die Debatte über diesen Teil des Wahlergebnisses wieder einmal nur ganz am Rande geführt wurde.
Offensichtlich setzt sich der Trend zur Nichtteilnahme an Wahlen weiter fort – und damit natürlich auch die Akzeptanzkrise unserer repräsentativen Strukturen, Akteure und Institutionen. Wer so wenig Einfluss auf die Politik in unserer Republik zu haben glaubt, dass er oder sie nicht einmal wählt, ist auch nicht geneigt, die Ergebnisse des Politikprozesses anzuerkennen.
Natürlich gilt das nicht für alle Nichtwähler*innen.
Ein kleiner Teil wählt nicht, weil er oder sie aus sprachlichen oder anderen Gründen mit dem Wahlprozess überfordert ist. Zum Beispiel können über 12 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland nicht oder nur unzureichend Lesen und Schreiben.
Und ein ebenfalls kleiner Teil wählt nicht, weil er oder sie so wohlhabend oder einflussreich ist, dass seine oder ihre Interessen unabhängig von Wahlergebnissen durchsetzungsfähig sind.
Doch unabhängig von den Motiven bleibt festzustellen – der repräsentative Teil unserer Demokratie ist für rund die Hälfte der Bevölkerung wenig attraktiv.
Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass sich neue Formen politischer Teilhabe entwickeln konnten. Bürgerbeteiligung in unterschiedlichen Formen und Formaten liegt im Trend. Nicht immer erfolgreich, aber häufig gelingt es ihr, intensive Debatten und erfolgreiche demokratische Prozesse zu ermöglichen.
Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht lautet: Weit überwiegend beteiligen diese Formate ziemlich genau die gleichen Milieus, die nach wie vor aktiv wählen. Exakt die Nichtwähler*innen sind häufig auch jene, die anderes zu tun haben, als sich mühsamen Beteiligungsprozessen auszusetzen.
Das haben die Fachleute in der Bürgerbeteiligung längst erkannt. Deshalb ist die so genannte „Breite Beteiligung“ nicht nur eine abstrakte Forderung in den „Grundsätzen Guter Beteiligung“ der Allianz Vielfältige Demokratie.
In vielen Kommunen bemühen sich Beteiligungspraktiker*innen tatsächlich regelmäßig, genau diese „beteiligungsfernen“ Milieus anzusprechen und zu motivieren.
Das gelingt manchmal, oft jedoch nicht. Selbst der viel beachtete erste Bürgerrat Demokratie in Deutschland tat sich trotz aller Bemühungen schwer damit. Die 160 Beteiligten sollten repräsentativ für den Bevölkerungsquerschnitt sein, über 4.000 Bürger*innen wurden dazu ausgelost und angeschrieben.
Am Ende gehörten dem Bürgerrat mehr als doppelt so viele Akademiker*innen an, wie in der Gesamtbevölkerung anteilig vorhanden. Und während über ein Drittel der Bundesbürger*innen über 16 Jahren über keinen oder nur einen Hauptschulabschluss verfügt, waren es gerade mal 7 Prozent der Beteiligten.
Diese Zahlen sind ernüchternd. Aber sie sind nur der erste Teil der Geschichte. Denn selbst wenn es gelingt, tatsächlich breit zu beteiligen und den Querschnitt der Bevölkerung weitgehend abzubilden, ist noch gar nichts gewonnen.
Denn die wahre Herausforderung fängt erst an, wenn die Beteiligung beginnt.
Besonders schlimm ist es in klassischen Open Space Situationen, aber selbst in moderierten Plena und Arbeitsgruppen ist es eher die Regel als die Ausnahme:
Mit geradezu beängstigender Regelmäßigkeit dominieren binnen kürzester Zeit einzelne Akteure die Debatte. Und genauso regelmäßig gehören diese jenen Milieus mit hoher Wahlbeteiligung und Beteiligungsbereitschaft an.
Es sind oft – aber nicht immer – Männer, meist gebildet, in der Regel über 50, rhetorisch fit.
Und unsere mühsam motivierten „Beteiligungsfernen“? Sind still und manchmal schon beim zweiten Termin nicht mehr da.
Tatsächlich ist diese disparate Beteiligung eher die Regel als die Ausnahme. Im Grunde liegt sie nur dann nicht vor, wenn die Breite Beteiligung schon im Teilnehmerkreis nicht erreicht wurde.
Nun sind wir Demokrat*innen aber Optimisten. Gehen wir also davon aus, wir hätten es erfolgreich geschafft, uns einen disparaten Beteiligungsprozess zu organisieren.
Wie schaffen wir es nun, aus einem breiten Beteiligtenkreis auch tatsächlich Breite Beteiligung werden zu lassen?
Da gibt es tatsächlich eine ganze Menge Methoden und Tools. Manche überraschen auf den ersten Blick, weil sie genau das nicht tun, was man gemeinhin als „neutrale Moderation“ definieren würde.
Eine Möglichkeit ist es zum Beispiel, gar nicht „breit“ zu beteiligen. So ist es durchaus möglich und oft erfolgreich, zu denselben Themen junge Menschen in gamifizierten Formaten abzuholen, Migrant*innen ggf. sogar in deren Muttersprache debattieren zu lassen, andere Gruppen direkt aufzusuchen und die Dialogergebnisse erst später in einen gemeinsamen Prozess zu überführen. Breite Beteiligung wird in diesem Fall also eher durch separate Beteiligung erreicht oder zumindest angestoßen.
Einen anderen, recht einfachen Kniff praktiziert eine Jugendorganisation, die seit vielen Jahren demokratische Ferienlager organisiert. Dort haben in der täglichen „Lagervollversammlung“ alle Rederecht. Die Erwachsenen haben jedoch eine Redezeitbegrenzung von zwei Minuten. Die Kinder nicht.
In einem Beteiligungsformat zur Gestaltung einer „kinder- und jugendfreundlichen Gemeinde“ durften Erwachsene immer erst dann reden, wenn keine Minderjährigen mehr auf der Liste waren.
Die konkreten Schritte können variieren. Worum es letztlich immer geht: kulturelle Dominanz der ohnehin gesellschaftlich schon Wirkungsmächtigeren zu verhindern.
Denn Repräsentativität herzustellen, reicht eben nicht, um aus einer breiten Gruppe von Beteiligten auch tatsächlich Breite Beteiligung werden zu lassen.
Manchmal kann es sogar helfen, diese Repräsentativität eben nicht 1:1 zu reproduzieren. Frauen, Migrant*innen, Junge und Menschen mit niedrigerem formalen Bildungsstatus können dann besonders gut Wirksamkeit entfalteten, wenn wir sie ganz bewusst überproportional beteiligen.
Auch wenn es hilfreiche Methoden gibt – manchmal ist die beste Methode einfach die kritische Masse herzustellen. Der Rest funktioniert dann nicht von alleine.
Aber erheblich leichter.