Ausgabe #129 | 23. Juni 2022
Demokratie divers
Heute wagen wir ein kleines Experiment: Unser Newsletter geht live. Exakt in den Minuten, in denen dieser Text veröffentlicht wird, könnten Sie den größten Teil davon auch live hören.
Wenn Sie zu Gast auf der Jahrestagung der Allianz Vielfältige Demokratie in Mainz wären. Dort treffen sich Expert*innen aus Verwaltung, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um über Innovation und Qualität in der politischen Teilhabe zu sprechen.
Die ganze Konferenz kann ich nicht zu Ihnen bringen, aber doch einen Teil meines Vortrages, der hoffentlich engagierte Diskussionen vorbereitet.
Es geht dabei um eine spannende These:
Unsere Gesellschaft wird immer diverser. Das ist ein Risiko für den Zusammenhalt. Aber zugleich auch eine Bedingung.
Klingt nach einem Widerspruch?
Ist es auch.
Weil wir in einer Gesellschaft leben, die von sehr vielen Widersprüchen geprägt ist.
Wir erleben aktuell, dass unsere repräsentative Demokratie unter Druck gerät. Und das betrifft alle ihre Facetten.
Ihre Institutionen, Akteure, Prozesse und Ergebnisse werden zunehmend kritisch hinterfragt und oft nicht mehr akzeptiert.
Unser Parlamente, konzipiert als höchste Instanzen unserer Demokratie, haben für viele Menschen in unserem Land entweder keine Relevanz mehr oder sind gar zur Projektionsfläche für Frust, sogar Hass und Aggression geworden.
Unsere Gesellschaft fällt nicht auseinander. Aber sie zerbröselt für viele Menschen in kleine, diverse Einheiten.
Die „eine“ Gesellschaft der Geschichte ist zu einem kunterbunten „Blasengebubbel“ geworden.
Und das ist etwas, was wir historisch kaum kennen.
Erinnern wir uns an die ersten demokratischen Gehversuche in Deutschland. Auch sie waren von Konflikten geprägt. Und wurden bald wieder beerdigt.
Allerdings waren die beteiligten Gruppen groß, homogen, hatten eigene, manchmal auch eigenartige Vorstellungen einer homogenen, identitären Gesellschaft. Die KPD träumte von der proletarischen Revolution und hatte 1932 rund 330.000 Mitglieder. Hochgerechnet auf die heutige Bundesrepublik wären das über eine halbe Million. Die NSDAP hatte ähnlich viele Angehörige. 1945 – als ihre Idee vom „völkischen Staat“ endgültig militärisch beendet wurde – waren es 8,5 Millionen.
Deutschland erlebte, zumindest in Teilen, beide identitären Gesellschaftskonzepte in der Praxis. Beide sind gescheitert.
Geblieben aber ist die Restvorstellung davon, dass Homogenität, wenn nicht einer Gesellschaft, so doch einer Gruppe, etwas Gutes ist.
Das Bild, der Wunsch, die Wahrnehmung einer Gruppe als Identitätsverbund prägt uns selbst und unsere demokratische Kultur noch tiefer, als uns bewusst ist. Wir suchen Gleichdenkende, gleiche Werte, gleiche Normen. In solchen Blasen fühlen wir uns wohl.
Dabei ist die Realität in unserem Land längst eine andere.
Und das ist eine gute Nachricht. Denn weder in einem identitären Staat, noch in einer Gesellschaft, in der wenige große homogene Blöcke konkurrieren, hat breite Beteiligung eine Chance.
Denn identitäre Konzepte brauchen keine streitbaren Debatten. Es gibt immer Richtig und Falsch, Gut und Böse. Wo das so ist, gelten Diskurse als gefährlich, als potentielles Abweichlertum. Beteiligung von unten? Stört.
Doch die Menschen in unserem Land verstehen sich heute zunehmend als Individuen und nicht als Mitläufer*innen. Sie sind durchaus bereit, sich zu engagieren, aber dieses Engagement erfolgt bei unmittelbarer Betroffenheit. Es erfolgt spontan, themenspezifisch und je nach Anlass und Kontext wechselnd intensiv.
Die richtige Antwort auf eine solche Realität lautet genau deshalb: eine Demokratie, die so vielfältig ist, wie die Menschen.
Die eingangs erwähnte Allianz Vielfältige Demokratie hat dazu ein 3-Säulen-Modell entwickelt. Repräsentative Gremien haben darin genauso ihren Platz wie direktdemokratische Entscheidungen und deliberative, auf Diskurs setzende Beteiligungsformate.
Und das ist noch längst nicht die ganze Vielfalt.
Denn viele engagierte Menschen denken heute nicht in Säulen, sie denken nicht in Strukturen, nicht in Repräsentativität. Sie fordern unmittelbare Teilhabe, praktizieren Selbstermächtigung. Sie ecken, wie die jungen Menschen von Fridays for Future damit an, sind oft nicht kompatibel zu den Angeboten, die die Gesellschaft ihnen unterbreitet.
Andere organisieren selbst Beteiligung, entwickeln neue Formen der politischen Teilhabe wie zivilgesellschaftlich organisierte Bürgerräte und treiben die Politik vor sich her.
Auch das bleibt nicht ohne Konflikte. Und es wirft Fragen auf.
Muss Beteiligung, auch selbst organisierte Beteiligung, mehr werden als nur ein Anhängsel etablierter Strukturen?
Trägt sie zu mehr Akzeptanz dieser etablierten Strukturen bei? Oder delegitimiert sie diese? Wie viel Beteiligung können umgekehrt die Gewählten und Regierenden akzeptieren?
Wer darf, wer soll, wer muss also letztlich wen beteiligen?
Bei allen Erfahrungen, die wir bereits mit Formen der Vielfältigen Demokratie machen konnten: Der grundlegende Kulturwandel steht uns erst bevor.
Die zunehmende Vielfalt ist also eine große Herausforderung. Vor allem aber ist die Erosion der großen identitären Blöcke auch eine großartige Chance:
Für ein modernes Konzept einer tatsächlich vielfältigen, lebendigen und zukunftsfähigen Demokratie.