Ausgabe #133 | 21. Juli 2022
Der junge Greis
Wir sind Loser. Also wir alle hier in unserem Land. Nur die Reichsbürger nicht. Und die Putin-Fans. Die Rechtsradikalen auch nicht. Die alle sind die Zukunft.
Könnte man glauben, wenn man sich den internationalen Democracy Index anschaut. Er wurde erstmals im Jahre 2006 und danach meist jährlich veröffentlicht – von der britischen „Economist“-Gruppe.
Anhand von 60 Kriterien teilt sie die Staaten dieser Welt ein. In Vollständige Demokratien, Unvollständige Demokratien, Hybridregime und Autoritäre Regime.
Im aktuellen Bericht wurde festgestellt, dass gerade einmal 6,4 Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie leben. Und da sind selbst Monarchien mitgerechnet, wie das Vereinigte Königreich oder das Herzogtum Luxemburg.
Die USA zählen allerdings ebenso als unvollständige Demokratie wie Frankreich, Spanien oder Belgien.
Die Ukraine ist sogar ein Hybridregime, die letzte Stufe vor der Autokratie – und hat sich laut Index in den vergangenen 16 Jahren beständig weiter von der Demokratie entfernt.
Wir ahnen schon: So ganz objektiv und präzise sind die Einordnungen wohl nicht. Vielleicht aber auch schlicht nicht politikwissenschaftlich seriös.
Was uns andererseits auch wieder nicht zu sehr verwundern sollte. Denn dahinter steckt ausgerechnet ein erzliberales Wirtschaftsmagazin aus dem Vereinigten Königreich, das von mehreren großen Investmentgruppen kontrolliert wird.
Investment-Banker haben traditionell eine andere Sicht auf die Demokratie als gemeine Bürger*innen.
Dieser Index ist also mit Vorsicht zu genießen. Grundfalsch ist er sicher nicht.
Doch er verzerrt. Denn er vermittelt den Eindruck, die Demokratie sei weltweit auf dem Rückzug. Und das stimmt so nicht. Nicht einmal aus dem Index lässt sich das ablesen.
Wie real nämlich die demokratische Mitwirkungsmöglichkeit für die Bürger*innen und Bürger ist, hängt in Ländern wie Frankreich, Spanien oder Deutschland weitaus mehr von Bildung, Einkommen und anderen Faktoren ab, als vom jeweiligen Wahlsystem.
Und fasst man die Gruppen 1 und 2 (zu der diese drei Länder gehören) zusammen, dann lebten 2006 rund 48% der Weltbevölkerung in einer mehr oder weniger perfekten Demokratie. 2020 dagegen waren es knapp 50%.
Ein globaler Trend sieht anders aus.
Berücksichtigen wir zudem, dass sich die Bevölkerungszahl in diversen, nicht als demokratisch eingestuften Ländern wie z.B. China in diesem Zeitraum deutlich nach oben entwickelt hat, während sie in vielen Demokratien stagniert, dann bleibt von der eingängigen These vom „Ende der Demokratie“ schlicht gar nichts übrig.
Erweitern wir den zeitlichen Horizont von den letzten 16 Jahren, die der Economist abbildet, beliebig weit nach hinten, egal ob bis 1989, 1945, 1918 oder noch weiter, dann stellen wir fest:
Die coolste Socke auf dem Platz ist und bleibt die Demokratie.
Sie ist, verstanden als politische Teilhabe für alle und nicht nur für eine Sklavenhalterelite wie im alten Griechenland, historisch vergleichsweise jung, sie ist seitdem auf dem Vormarsch, sie ist mehr und mehr Menschen zugänglich.
Sie ist jung, sexy und erfolgreich. Und doch haben wir in unserem Land manchmal den Eindruck, sie sei ein kurz vor dem Kollaps stehender Greis.
Vielleicht, weil beides zugleich richtig ist?
Wir leben in Deutschland seit einem dreiviertel Jahrhundert in einer stabilen Demokratie. Viele bereits in der dritten oder vierten Generation, manche allerdings auch erst deutlich kürzer.
Historisch jedoch neigen alle Gesellschaftssysteme, erst rechte jene, die eine Bürokratie ausbilden, dazu, nach so langer Zeit ein erhebliches Maß an Verkrustungen, Erstarrungen und surrealen Praktiken zu entwickeln. Das kennen wir aus Monarchien, Aristokratien, aus realsozialistischen Experimenten, aber eben auch aus Demokratien.
Die entscheidende Frage ist also nicht, ob oder wann sich solche Erstarrungen herausbilden, sondern ob sie überwunden werden können – ohne dass das System gewaltsam zerschlagen wird.
Tatsächlich ist das eine der großen, oft vergessenen Grundideen der Demokratie: Sie als System zu verstehen, dass nicht Bestand garantiert, sondern Veränderung organisiert.
Wenn sie das nicht tut, scheitert sie.
Und das ist der Punkt, an dem uns der aktuelle Eindruck, unsere Demokratie sei unter Druck, eben doch nicht täuscht: Wir sind aktuell (noch) nicht besonders erfolgreich darin, Veränderung zu organisieren.
Manche glauben, wir könnten die Wirtschaft digitalisieren, ohne dass dies Folgen auch für unsere Teilhabe hat. Manche glauben, wir könnten den Klimawandel überstehen, in dem wir ein paar Energieträger austauschen und ansonsten so weiterverschwenden wie bisher.
Manche glauben, wir könnten unser Wirtschaftsleben weiter so optimieren, dass mehr und mehr Menschen nicht mehr „verwertbar“ sind und sich aus der Wohlstandsgesellschaft verabschieden müssen.
Manche glauben, wir könnten den erkennbaren Akzeptanzverlust der Parteiendemokratie mit ein paar Beteiligungsangeboten für einige wenige ausgeloste Bürger*innen auffangen.
All diese Vorstellungen sind Ausdruck derselben Idee: Das gesellschaftliche Stabilität erreicht würde, in dem man Veränderungen unterbinde.
Das Gegenteil ist richtig: Wenn sich die Rahmenbedingungen wandeln – und das tun sie ohne Zweifel – müssen sich auch die Systeme wandeln, um zu bleiben.
Genau das ist die Kernaufgabe von Demokratie: Diesen Wandel so zu ermöglichen, dass er bei allen Schmerzen und Konflikten friedlich und gemeinwohlorientiert gelingen kann.
Eine Garantie dafür, dass es gelingt, gibt es nicht. Aber in der Demokratie gibt es die Option. Und es gibt immer mehr Demokratie.
Doch das heißt noch gar nichts, wenn wir diese Demokratie nicht zu dem nutzen, für das sie geschaffen wurde:
Um Veränderung zu organisieren.
Deshalb verteidigen wir unsere Demokratie am besten, indem wir sie leben.
Und das deutlich umfassender und intensiver als bisher.