#136 | Lasst mich doch in Ruhe

Moderne Bürgerbeteiligung erreicht viele Menschen. Aber die Richtigen noch zu selten.

Ausgabe #136 | 11. August 2022

Lasst mich doch in Ruhe

Anfang 2020 stürzte der Amerikaner Mike Hughes ab. Nicht mit dem Flugzeug oder dem Heißluftballon. Sondern in einer von ihm selbst gebauten Rakete mit Dampfantrieb.

Sein Ziel war es, zu beweisen, dass die Medien uns alle anlügen. Mike Hughes nämlich war sich sicher, dass die Erde eine Scheibe sei. Um das mit einem Foto beweisen zu können, konstruierte er seine Rakete. Er bezahle sein Vorhaben mit dem Leben.

Menschen wie Mike Hughes sind eher selten. Groß aber ist die Zahl jener, die unseren Medien nichts mehr glauben, die Grundkonsens der Gesellschaft in Frage stellen oder gar prinzipiell nichts mehr von ihr wissen wollen.

Reichsbürger zum Beispiel leugnen grundsätzlich die Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Und doch sind es laut Verfassungsschutz gerade mal rund 20.000 Menschen. Auch wenn die Medien immer wieder über besonders eskalierende Fälle berichten: Für eine Demokratie von 80 Millionen Menschen ist das keine ernsthafte Gefahr.

Tatsächlich sind Raketenfreaks und Reichsbürger nicht das Problem. Kritisch wird es erst dann, wenn große Teile der Bevölkerung Verschwörungsschwurblern mehr glauben als seriösen Wissenschaftler*innen und Journalist*innen.

Ist diese Sorge berechtigt?

Werfen wir dazu einen Blick in eine brisante aktuelle Studie. Das Reuters Institut und die Universität Oxford veröffentlichen Jahr für Jahr den Digital News Report. Es geht darin nicht um Demokratie, sondern um Medien. Konkret um die Frage, wie sich die Mediennutzung in Zeiten der Digitalisierung verändert.

In der aktuellen Ausgabe für 2022 werden einige Erkenntnisse präsentiert, die in der Summe nachdenklich machen.

Die gute Nachricht ist: Die Deutschen glauben den öffentlich-rechtlichen Medien noch immer mehr als der BILD.

Aber: Das Vertrauen in die Nachrichten sinkt weiter. Traditionelle Medien wie Fernsehen oder Zeitungen werden immer weniger konsumiert. Seit 2013 ist der Nachrichtenkonsum auf Papier von 63 Prozent auf 26 Prozent gesunken. Der TV-Konsum ging von 82 auf 65 Prozent zurück.

Und anders als viele glauben, werden sie nicht in gleichem Maße durch Online-Medien ersetzt. Nicht einmal durch die stärke Nutzung von Social Media als Nachrichtenquelle – mit allen ihren Kollateralschäden.

Tatsächlich geht das Interesse an Nachrichten grundsätzlich zurück.

Noch schlimmer: Die Zahl derer, die Nachrichtenkonsum aktiv vermeiden, steigt in vielen Ländern. Auch in Deutschland.

Immer mehr Menschen wollen oder können große Teile der Nachrichten nicht ertragen. Sicher haben dazu, das belegt auch die Studie, aktuelle Krisen wie Corona, Klimawandel oder der Ukrainekrieg beigetragen.

Die Tendenz ist jedoch schon seit Jahren zu beobachten, aktuell erfährt sie nur eine weitere Beschleunigung:

Der Rückzug aus einer als bedrückend, überwältigend, bedrohlich empfundenen Realität ins Private. Bei manchen sogar ins Phantastische.

Für eine Demokratie ist das eine alarmierende Tendenz. Denn Demokratie lebt von öffentlichem Diskurs, auch von öffentlicher Kritik und Kontrolle. Wenn immer weniger Menschen daran teilhaben und sich sogar immer weniger Menschen dafür auch nur interessieren, wird Demokratie instabil, leichter korrumpierbar und durch rücksichtslose Populisten leichter manipulierbar.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, es gibt viele Programme und Kampagnen, die sich mit den Ergebnissen am Ende eines solchen Verabschiedungsprozesses beschäftigen.

Es gibt Aufklärung über Verschwörungserzählungen, Kampagnen gegen Rassismus, Faktenchecks gegen populistische Mythen.

Und es gibt Bemühungen, schon sehr viel früher anzusetzen. Menschen Angebote zu politischer Teilhabe zu machen und sie Demokratie aktiv erleben zu lassen.

Nicht ohne Grund hat die Bürgerbeteiligung in den vergangenen Jahren flächendeckend an Umfang und Qualität zugenommen.

Dabei sollten wir jedoch ein Risiko nicht vergessen: Wird Bürgerbeteiligung als Angebot verstanden, droht ihr eine ähnliche Gefahr wie den Nachrichten. Dort machen immer mehr Menschen von diesem Angebot keinen Gebrauch.

Und jene, die es tun, sind jene, die ohnehin gut integriert sind, meist überdurchschnittlich gebildet, oft älter, und finanziell besser situiert als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Tatsächlich ähneln sich die Milieus jener, die politisch aktiv sind und jener, die politische Nachrichten konsumieren, sehr. Das gilt sogar auf kommunaler Ebene: Die Sozialstruktur der kommunalpolitisch Aktiven (In Parlamenten und Vereinen) ist erstaunlich ähnlich mit jenen Menschen, die mit Beteiligungsangeboten erreicht werden.

Das spricht nicht gegen Beteiligung. Aber dafür, Beteiligung nicht nur als Angebot zu verstehen.

Sondern als Auftrag.

Beteiligung muss jene erreichen, die Politik und Nachrichten alleine nicht erreichen können.

Sie ist tatsächlich nicht dann gut, wenn sie gut gelaufen ist.

Sondern dann, wenn sie jene beteiligt, die sich nicht von alleine einmischen können – weil ihnen dazu Geld, Bildung, Sprache, Zeit, Selbstbewusstsein oder angstfreie Lebenssituation fehlen.

Das wird von vielen Menschen, die Beteiligung organisieren, längst thematisiert. Ansätze wie „aufsuchende Beteiligung“ oder spezifisch designte Angebote für ganz bestimmte, angeblich „beteiligungsferne“ Gruppen sind die Antwort. Auch zielgruppengerechte Formate gerade im digitalen Raum werden durchaus erfolgreich erprobt.

Dabei beobachten wir ein Phänomen: Die Herausforderungen beginnen oft erst dann, wenn es eben erfolgreich gelungen ist, jene Gruppen in die Beteiligung zu holen. Solche Prozesse laufen nämlich häufig weniger ruckelfrei und glatt als jene mit den demokratieerprobten Beteiligten.

Wir erleben das in unserm Berlin Institut für Partizipation immer wieder bei unseren Evaluationen von Beteiligungsverfahren: Je homogener die Beteiligte, je „besser“ wird der Prozess anschließend oft bewertet, besonders in den Medien, aber auch von Kommunalpolitiker*innen.

Dabei ist für die Qualität von Beteiligung ein geräuscharmer Prozess lange nicht so wichtig wie die Frage, wer denn da wirklich beteiligt wurde. Und wie wirksam diese Beteiligten sich einbringen konnten.

Wenn es dann mal ruckelt im Prozess ist das oft sogar ein Zeichen dafür, dass die Richtigen beteiligt wurden.

Und das ist letztlich das, worum es geht.

Vor allem dann, wenn wir unsere Demokratie stärken wollen.

Denn, wie wir gesehen haben: Es sind nicht die Reichsbürger und Raketenfreaks, die uns Sorgen machen sollten.

Sondern die Resignierten.

Es ist durchaus möglich, bei ihnen wieder mehr Interesse an unserer Demokratie zu wecken. Doch dazu müssen wir vor allem eines tun:

Sie mehr davon erleben lassen.

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2 Kommentare
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Michael Lobeck
11. August 2022 21:52

Lieber Herr Sommer,

den Grundtenor Ihres Artikels kann ich gut unterstützen. Ich halte es auch für relevant, möglichst viele unterschiedliche Menschen in der Beteiligung zu erreichen. Darin sind wir im Mittel noch nicht gut und wir müssen es lernen – sowohl das Erreichen als auch das gut konzipieren und beteiligen – auch wenn es dann man „ruckelt“.

Die von Ihnen gezogenen Schlussfolgerungen aus dem Digital-News-Report finde ich aber etwas großzügig. Sie schreiben „Aber: Das Vertrauen in die Nachrichten sinkt weiter. Traditionelle Medien wie Fernsehen oder Zeitungen werden immer weniger konsumiert. Seit 2013 ist der Nachrichtenkonsum auf Papier von 63 Prozent auf 26 Prozent gesunken. Der TV-Konsum reduzierte sich von 82 auf 65 Prozent.“

Zum Vertrauen schreiben die Autor*innen etwas diffenzierter:
„Trust in the news has fallen in almost half the countries in our survey, and risen in just seven, partly reversing the gains made at the height of the Coronavirus pandemic. On average, around
four in ten of our total sample (42%) say they trust most news most of the time. Finland remains the country with the highest levels of overall trust (69%), while news trust in the USA has fallen by a further three percentage points and remains the lowest (26%) in our survey.“ (S. 10) Machen die Finnen etwas richtig oder vertrauen sie nur lieber?

Der Rückgang der Nutzung einzelner Medienarten als Nachrichtenquelle („as a source of news“), die Sie zahlenmäßig für Deutschland (S. 12 des Reports) zitieren ist laut dem Report offensichtlich. Diese Werte sagen aber doch nur, dass in der letzten Woche vor der Umfrage in 2022 65% das Fernsehen und 26% ein Prinmedium als Nachrichtenquelle genutzt haben. Wer wie viel parallel nutzt oder eben nicht, ist zum Beispiel völlig unklar.

2013 nutzten zum Beispiel 82% Fernsehen und 18% Social Media – 2022 65% Fernsehen und 32% Social Media. Wenn das unterschiedliche Gruppen sind, also kein Fernsehnutzer Social Media nutzt, hat sich die Summe kaum verändert (100% -> 97%). Nutzen allerdings nur Fernsehnutzer auch Social Media, ist die Gesamt-Zahl von 82% auf 65% in 2022 gefallen.

Wie gesagt, ich fand die Interpretation etwas großzügig auf der vorhandenen Datenlage. Vielleicht haben Sie die Studie aber auch gründlicher gelesen als ich bisher.

Und Ihre Hauptthese und den Grundtenor teile ich, wie gesagt.
Auch wenn es sicher ein Recht auf Nichtbeteiligung geben sollte, sollte das freiwillig ausgeübt werden. Heute werden viele Menschen wohl durch die bequeme „FAZ-Beteiligung“, wie wir sie mal in einer Studie nannten, aktiv ausgeschlossen.

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