#138 | Wer nimmt wen mit? Und wohin?

Viel verändert sich gerade in deutschen Unternehmen. Auch die Bereitschaft zu Beteiligung. Doch mit welchen Wirkungen?

Ausgabe #138 | 25. August 2022

Wer nimmt wen mit? Und wohin?

Alexander B. war sauer. So richtig sauer.

Der 46-jährige Prozessmanager im Audi Konzern fühlte sich diskriminiert. Denn sein Arbeitgeber wollte ihn zu unaussprechlichen Dingen zwingen.

Audi hatte mit dem Slogan „Vorsprung beginnt im Kopf“ den Gender-Leitfaden eingeführt und erklärt, dass zukünftig „alle Geschlechter und geschlechtlichen Identitäten gleichwertig und wertschätzend angesprochen werden sollen“.

Nicht mit Alexander B.

Der schickte seinem Arbeitgeber postwendend eine Unterlassungserklärung zu.

Wohlgemerkt: Nicht, weil er selbst zum Gendern gezwungen werden sollte. Das war nämlich nie vorgesehen.

Gestört hat er sich allein daran, dass sein Arbeitgeber die eigene Belegschaft zukünftig gendersensibel ansprechen wollte.

Alexander B. verlangte also, „er möchte in Ruhe gelassen werden mit dieser Gender-Sprache“ und forderte 100.000 Euro Schadenersatz.

Tatsächlich führte der Konflikt zu einem in der Öffentlichkeit breit diskutierten Gerichtstermin und letztlich auch zu einem Urteil.

Die Klage wurde abgewiesen.

Ob der Fall damit beendet ist oder in der nächsten Instanz neu aufgelegt wird, ist noch offen.

Der Fall illustriert aber bereits jetzt eine spannende Frage. Sie wird in deutschen Chefetagen seit einiger Zeit rauf und runter diskutiert:

Wie nehmen wir unsere Belegschaften mit?

Denn es stehen gewaltige Transformationen an. Das Gendern ist hier aus ökonomischer Sicht eher eine Randerscheinung. Wesentlich größere Veränderungen produziert heute schon die Digitalisierung, die weit mehr ist als „nur“ ein paar Rechner mehr in den Produktionsprozessen. Sie verändert alles: Produkte, Produktion, Vertrieb und häufig ganze Geschäftsmodelle.

Gleiches, oft in noch umfangreicherem Ausmaß, bedingt die Transformation zu einer nachhaltigen, klimakompatiblen Wirtschaft.

Es ist bekannt, dass solch tiefgreifende Transformationen immer beides produzieren: Gewinner und Verlierer. Vor allem auch:

Widerstände.

Da steht der Audi-Mitarbeiter mit der Genderphobie nur stellvertretend für zahlreiche Beschäftigte, die vor diesen Veränderungen Angst haben – und häufig sind diese Ängste alles andere als unbegründet.

Wie nehmen wir unsere Belegschaften also mit?

Diese Frage stellen sich viele Führungskräfte und Ökonomen.

Dr. Andreas Zeuch von den unternehmensdemokraten veröffentlicht in seinem Blog immer wieder interessante Beiträge zum sogenannten Spillover-Effekt.

Dieses im Deutschen auch Übertragungseffekt genannte Phänomen beschreibt die Übertragung von Wissen, aber auch Gefühlen und Verhaltensweisen von einem Fachgebiet auf ein anderes.

Beispielsweise kann das Lob eines Vorgesetzten zu einer positiven Stimmung in der Privatsphäre führen.

Zwischenzeitlich gibt es seriöse Studien, die einen solchen Effekt zum Beispiel auch für die Einstellung zur Nachhaltigkeit nachweisen.

Fast alle Familien von Grundschulkindern haben den Effekt schon am eigenen Leibe erfahren: Wenn in der Schule das Thema Müll und Mülltrennung bearbeitet wird, steigt der Druck zu Hause. Grundschulkinderfamilien gehören zu den Gruppen mit der höchsten Recyclingrate.

Tatsächlich konnte eine Studie einen ähnlichen Einfluss schon vor über zehn Jahren auch bei Mitarbeitenden nachweisen: Die Einführung von Umwelt-Management-Systemen im Betrieb hatte einen positiven Einfluss auf die Mülltrennung am Arbeitsplatz und zu Hause.

Ähnliche Wirkungsmuster sind auch bei Themen wie Demokratie, Antirassimus und Gleichberechtigung zu beobachten.

Gleichzeitig gibt es auch Menschen wie unseren eingangs erwähnten Audi-Mitarbeiter, bei denen keine oder eher eine gegenteilige Wirkung zu beobachten ist.

Und da kommt die Kommunikation ins Spiel: Reine Anordnungen von oben funktionieren bei Beschäftigten ähnlich gut wie bei Grundschulkindern.

Nämlich eher nicht.

Spillover-Effekte können nicht befohlen werden. Sie sind Ergebnis eines Aneignungsprozesses: Neue Erkenntnisse und neue Verhaltensweisen werden weitaus eher angenommen, wenn die Betreffenden sie sich angeeignet haben, nicht weil sie ihnen anbefohlen wurden.

Aneignung ist nun einmal am erfolgreichsten im Rahmen eines Partizipationsprozesses. Neue Verhaltensstandards, neue Prozesse im Betrieb funktionieren nicht nur im Betrieb besser, wenn sie nicht im Audi-Stil per Leitfaden durchkommuniziert, sondern wenn die Beschäftigten an dem Wandelprozess aktiv beteiligt werden.

Zugegeben, das ist im deutschen Mittelmanagement eine verwegene Idee.
Denn unsere Unternehmen sind nach wie vor ein weitgehend demokratiefreier Raum. Da ist die Vorstellung, Kulturwandel als Beteiligungsprozess zu sehen, erst einmal herausfordernd.

Doch es bewegt sich etwas.

Gerade im Bereich der Nachhaltigkeit setzen immer mehr mutige CEOs und innovative CSR-Abteilungen auf Beteiligungskonzepte. Tatsächlich gibt es dort noch viel Unsicherheit und auch methodische Irrlichterei.

Viele Erfahrungswerte aus der klassischen Bürgerbeteiligung haben ihren Weg noch nicht in diese Prozesse gefunden. Die Entwicklung steht hier erst am Anfang. Aber es gibt sie.

Und tatsächlich lohnen sich betriebliche Beteiligungsprozesse gerade im Rahmen der Transformation zu einem nachhaltigeren Wirtschaften ganz besonders für jene Unternehmen, die sich trauen.

Erst kürzlich hatte ich dazu einen Austausch mit dem CEO eines der größten deutschen Unternehmen. Der berichtete mir, und das durchaus erfreut, von einem ganz anderen Spillover-Effekt:

Es sind vor allem die neuen, jungen Beschäftigen, die Nachhaltigkeitserwartungen an das Unternehmen mitbringen und so für Dynamik sorgen.

Wo früher Dienstwägen und Sonderleistungen die häufigsten Fragen von Bewerber*innen waren, sind es heute Klimabilanzen und gesellschaftliche Verantwortung.

Das gilt nicht für alle. Aber es ist eine Entwicklung, die längst im Top-Management angekommen ist.

Und vor allem ist es ein weiterer, überzeugender Grund dafür, Mitarbeitende am Transformationsprozess zu beteiligen:

Nicht nur, weil es potenziell ihr Verhalten ändert oder Akzeptanz für Veränderungen schafft.

Sondern weil es das Unternehmen verändert.

Und genau darum geht es.

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