#139 | Das Manifest

Demokratische Teilhabe als Prozess zu verstehen, kann helfen. Es kann aber auch in die Irre führen.

Ausgabe #139 | 1. September 2022

Das Manifest

Hören wir „Manifest“, denken viele von uns an den Klassiker von Karl Marx und Friedrich Engels. Ihr „Manifest der Kommunistischen Partei“ gilt tatsächlich als Blaupause für viele folgende Publikationen.

Auch wenn keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs existiert, so haben sie doch Einiges gemein:

Sie sind oft knapp gehalten und pointiert formuliert. Sie sollen eine breite Öffentlichkeit erreichen. Sie sollen die Welt verändern.

Das gilt für das Kommunistische Manifest von Marx und Engels (1848, revolutionär) ebenso wie für das Heidelberger Manifest von Schröcke und 15 Professoren (1981, rassistisch) oder das Ökohumanistische Manifest von Ibisch und Sommer (2021, Vorsicht: Eigenwerbung).

Fast immer sind es alte Männer, die ihre Sicht auf die Welt erklären und sie manchmal tatsächlich so auch verändern.

Auch Jeff Sutherland und Ken Schwaber waren bereits ältere Semester, als sie gemeinsam mit 15 Co-Autoren 2001 das Agile Manifest veröffentlichten.

Entwickelt hatten die beiden Softwareentwickler das dahinter stehende Konzept agiler Softwareentwicklung allerdings schon in den 90er Jahren. Da waren sie zwar beide auch schon ältere Herren.

Allerdings haben die genannten Manifeste sehr unterschiedliche Wirkungsgrade entfaltet:

Das Kommunistische Manifest dominierte ein halbes Jahrhundert lang die Lebensbedingungen eines großen Teils der Weltbevölkerung. Das Ökohumanistische Manifest muss seinen Wirkungsnachweis erst noch erbringen. An das Heidelberger Manifest klammern sich heute fast nur noch Kader der Rest-NPD.

Das Agile Manifest allerdings ist ein besonderes Phänomen: Es hat in der Tat die Softwareentwicklung revolutioniert. Es beeinflusste aber auch Bereiche, die darin überhaupt nicht adressiert wurden.

Heute ist „agiles Arbeiten“ in den meisten Startups etablierter Standard.
Es gibt zahlreiche Initiativen, die das agile Prinzip auch für die deutsche Bürokratie erschließen wollen. Durchaus mit ersten Erfolgsmeldungen.

Wir interessieren uns dafür, weil agile Konzepte durchaus auch spannend für demokratische Prozesse sein können – bis weit in Projekte der Bürgerbeteiligung hinein.

Doch bevor wir uns diese Möglichkeiten anschauen, klären wir kurz, was agiles Arbeiten tatsächlich meint.

Das Agile Manifest konzentriert sich auf vier Kernaussagen und daraus abgeleitete Prinzipien.

Grundsätzlich kritisieren die Autoren das starre Prozessdenken, das die Industrie und eben auch die Produkt- und Softwareentwicklung bis zur Jahrtausendwende und darüber hinaus dominierten.

Die Idee, ein ganzes Projekt im Voraus detailliert durchzuplanen, alle Rollen, Funktionen, Aufgaben und Handlungsschritte konkret zuzuweisen und dann alles nur noch stur abzuarbeiten, klingt bestechend für Vorgesetzte und Planer*innen.

Bei immer komplexeren Produkten und Projekten sind aber Planungsfehler immer wahrscheinlicher – und haben oft katastrophale Auswirkungen.

Dem setzen die Autoren des Agilen Manifests ihre agilen Werte gegenüber. Zwei davon sind besonders interessant:

  • Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen,
  • Eingehen auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans.

Gemein ist allen Werten eines: Starre Strukturen sind verpönt, Flexibilität ist der Schlüssel zum Erfolg.

Und der Erfolg gibt den Autoren recht. Die zwischenzeitlich weit verbreitete SCRUM-Methode basiert auf diesen Werten, ist weltweit ein Begriff im Management und Garant für Innovationstempo und motivierte Akteur*innen.

Alle Startups, an deren Gründung ich beteiligt war (und das sind eine ganze Menge), arbeiten agil, zwischenzeitlich auch einige NGOs, in denen ich mich als Vorstand engagiere.

Schwer tun sich mit diesen Prinzipien traditionell öffentliche Verwaltungen.

Und das aus gutem Grund.

Hier geht es um Verlässlichkeit und eben darum, dass gleiche Voraussetzungen auch gleiche Ergebnisse produzieren. Deshalb werden auch in Zukunft viele Verwaltungsakte eben genau andersherum gedacht und organisiert sein:

Prozesse sind wichtiger als Personen und Interaktionen.

Problematisch wird es oftmals dann, wenn diese Verwaltungsprinzipien auf „unbürokratische“ Bürger*innen treffen.

Was bei der Bearbeitung eines Bauantrages aber noch guten Gewissens begründet werden kann, funktioniert zum Beispiel im Kontext von Bürgerbeteiligung nicht mehr wirklich gut.

Ein schönes Beispiel dafür ist ein Bürgerhaushaltsprojekt einer deutschen Großstadt: Dort sollten die Einwohner*innen die Chance haben, sich persönlich in die Erstellung des Haushalts einzubringen.

Also setzte die Verwaltung einen Prozess auf. Der war intensiv durchdacht und wurde auch transparent kommuniziert:

  • Zunächst durften alle Bürger*innen beliebige Vorschläge zum Haushalt einbringen.
  • Darauf folgte ein „Verwaltungs-Check“, der sicherstellen sollte, dass diese Vorschläge realistisch, bezahlbar und rechtlich kompatibel sind.
  • Dann durften „zufällig und repräsentativ“ ausgewählte Bürger*innen über die Vorschläge abstimmen.
  • Anschließend sollte eine zufallsbesetzte „Bürgerkonferenz“ ihre Favoriten ermitteln.
  • Aus den jeweils 10 Favoriten von Bürgerabstimmung und Bürgerkonferenz sollte der Fachausschuss Finanzen der Stadt dann jene 10 Vorschläge auswählen, die in den Haushaltsentwurf kommen.
  • Und dieser sollte dann im Stadtrat beschlossen werden.

Wow.

„Mehr an Bürgerbeteiligung geht nicht“, sagte ein Verwaltungsvertreter gegenüber den Medien. Und ich bin mir sicher:

Er glaubte das wirklich.

Denn der Prozess war ausgetüftelt, vielfältig, klar strukturiert – und zeitlich solide durchgetaktet.

Es fing auch gut an: Hunderte von Vorschlägen wurden eingereicht.

Und dann begann die Tragödie.

Die allermeisten Vorschläge fielen bei der Verwaltungsprüfung durch. Kommuniziert wurde dies in der Regel in maximaler Knappheit:

  • „Zum jetzigen Zeitpunkt nicht entscheidungsreif.“
  • „Wird zu einem späteren Zeitpunkt von der Stadtverwaltung aufgegriffen.“
  • „Das Thema wird bereits in der Stadtverwaltung berücksichtigt.“

Das war in der Regel das gesamte Feedback, das die Einreichenden bekamen – und das für durchaus realitätsnahe Vorschläge und Initiativen. Ein Austausch, ein Dialog, eine Gelegenheit zur Erläuterung gab es nicht.

Entsprechend groß war der Frust bei nahezu allen Beteiligten. Der Prozess aber lief weiter. Wenn auch nicht ruckelfrei. Sogar die Bürgerkonferenz musste abgesagt werden – mangels Interesse an der Teilnahme.

Das Problem bei dieser Beteiligung war der Prozess. Zugleich war eben jener auch die Lösung: Der Prozess wird am Ende zu Ergebnissen führen, denn er ist robust geplant.

So robust, dass er im Verlauf zunehmend weniger Beteiligung benötigt und dennoch die gewünschten Ergebnisse (10 Haushaltspunkte) produziert. Aus Sicht der Verwaltung wird er am Ende möglicherweise sogar als Erfolg betrachtet.

Aus Sicht der Beteiligung – und damit auch der Stärkung von Demokratie – ist er differenzierter zu betrachten: Zahlreiche Bürger*innen haben sich aktiv eingebracht – und wurden frustriert. Sie haben keine Chance auf einen Diskurs erhalten, keine Deliberation erlebt und eventuelle Vorurteile gegenüber der Verwaltung bestätigt bekommen.

Warum? Weil Bürgerbeteiligung hier eben als Prozess gedacht und geplant wurde. Mit klar zugewiesenen, zeitlich begrenzten und inhaltlich marginalen Rollen für unterschiedliche Bürger*innen zu unterschiedlichen Zeiten.

Niemand hatte eine Chance, den Prozess vollständig aktiv mitzugestalten. Die Beteiligten waren Prozessbausteine, subjektiv eher beschäftigt als beteiligt.

Genau hier können die agilen Werte dabei helfen, zu verstehen, warum es so nicht nachhaltig funktionieren kann:

„Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen“, sagt das Agile Manifest. Und ist damit ein perfekter Hinweis auf das, was in der Beteiligung zählt.

Beteiligung als Prozess zu denken, kann schnell ungewollte Kollateralschäden verursachen – selbst dann, wenn sie gut gemeint ist, wie auch in dem hier geschilderten Fall.

Es war nie das Ziel, die Bürger*innen zu frustrieren. Aber es war ein Ergebnis.

Beteiligung als Prozess gedacht, muss nicht immer scheitern, aber das Risiko ist groß, dass dieser Prozess – wie im vorliegenden Fall – nicht ein einziges Mal aus Beteiligtensicht durchgespielt wird – und dann wird es gefährlich.

Die zweitbeste Lösung für die Herausforderung: Wenn schon Prozessplanung, dann bereits unter Beteiligung von Bürger*innen. Jeder Prozessschritt und das Gesamtverfahren muss aus Sicht der Beteiligten durchgespielt werden.

Und wann immer ein Beteiligungsimpuls entsteht, ist auch ein Angebot oder zumindest eine Information vorzuhalten.

Vor allem aber: Beteiligungsbereitschaft lässt sich nicht beliebig ein- und ausschalten. Das ist unpraktisch. Aber es ist die Realität.

Und doch ist partizipative Prozessplanung nur die zweitbeste Lösung.

Die beste ist in der Tat: Beteiligung im agilen Mindset.

Was ein agiles Mindset ist, wie man es entwickelt und wie es in der Beteiligungspraxis funktioniert, darüber sprechen wir in der kommenden Woche.

Vorab nur so viel: Agile Beteiligung ist nicht nur einfacher und schneller. Sie braucht auch weniger Ressourcen. Vor allem aber:

Sie macht auch entschieden mehr Spaß.

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Thomas MichL
2. September 2022 8:42

Schön auf den Punkt gebracht. Ich bin zwar innerlich an einer Stelle wegen der Formulierungen zusammengezuckt, weil Agilität zu oft mit Flexibilität verwechselt wird. Agilität bedeutet Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit. Es geht viel mehr um eine gesundes austarieren zwischen Effektivität und Flexibilität. Jim Benson hat es irgendwann mal schön auf den Punkt gebracht: Gesunde Prozesse sind effektiv und flexibel (um, ausreichend Spielraum als Reaktion auf die individuelle Situation zu bieten).

Da ich selbst ein paar Jahre lang Bürgerbeteiligungsprozesse begleiten durfte und dies vor über 12 Jahren dann auch mein Einstieg in die Agilität war, kann ich aus der Praxis heraus vieles bestätigen. Bürgerbeteiligung ist ein „explorativer Prozess“ im Sinne eines beständigen Lernen und weiterentwickelns.

Vielen Dank für den Diskussionsimpuls.

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