Ausgabe #146 | 20. Oktober 2022
Eskalation für Einsteiger
Heute beginnen wir mal ganz praktisch. Mit einem kurzen Leitfaden für Kommunalpolitikerinnen und Verwaltungschefs, die etwas beweisen wollen:
Dass Bürgerbeteiligung eine ausgesprochen schlechte Idee ist.
Nennen wir diesen Leitfaden also „Eskalation für Einsteiger“ oder „Sechs Schritte ins Chaos“:
Schritt 1: Kommunales Koma
Stellen Sie sicher, dass Sie keine Beteiligungsangebote in Ihrer Kommune machen. Also: gar keine.
Und das möglichst über Jahre hinweg. Je länger, desto besser. Ihre Gemeinderatssitzungen legen sie auf Zeiten, zu denen nur wenige Bürger*innen Zeit und/oder Lust haben.
Ihre Tagesordnungen müssen mindestens 20 Punkte umfassen, die Themen so kryptisch formuliert sein, dass sich außer den Insider*innen niemand etwas darunter vorstellen kann.
Schritt 2: Minimale Transparenz
Mindestens zwei Drittel der Tagesordnungspunkte rufen Sie „in geschlossener Sitzung auf“.
Denn sie sind vertraulich und gehen Bürger*innen nichts an. Haushaltsentwürfe werden erst veröffentlicht, wenn jeder auch noch so minimale Posten vorab hinter verschlossenen Türen mehrheitsfähig ausverhandelt wurde.
Veröffentlichungsfristen werden so kurz wie rechtlich gerade noch haltbar gesetzt.
Schritt 3: Der Bürger als Störfaktor
Verirren sich dann doch einmal ganz normale Bürger*innen in eine Gemeinderatssitzung, wird schon durch die Anordnung und Anzahl der Gästebestuhlung signalisiert, wer hier Akteur*in – und wer Zuschauer*in ist.
Tagesordnungen und Unterlagen gibt es für „Besucher*innen“ nicht. Bei jedem Flüstern wird ermahnt, bei Beifallskundgebungen mit Räumung des Saales gedroht.
Sind Fragen aus dem Publikum erlaubt, werden sie mit maximaler Kürze und minimalem Informationsgehalt abgefertigt – um möglichst bald in die ersehnte „Nichtöffentliche“ entkommen zu können.
Schritt 4: Die Frustversammlung
Wenn es gar nicht mehr anders geht (oder rechtlich vorgeschrieben ist), wird eine Bürgerversammlung anberaumt. Auch hier wieder in fein ziselierter Sitzordnung, mit Vorliebe konfrontativ: ein langer Tisch für Verwaltung und Politik. Gerne auch mal erhöht auf einem Podium. Gegenüber Sitzreihen wie im Theater.
Ein Mikrofon für jedes Podiumsmitglied, ein Mikrofon für alle Bürger*innen zusammen.
Die Tagesordnung liest sich dann auch gerne mal wie die Titelseite der BILD. In einer einzigen Sitzung soll es erst um die Installation von weiteren Windrädern gehen (30 Minuten), dann um die Schließung des örtlichen Freibads (30 Minuten), um die Erweiterung der regionalen Mülldeponie auf der Gemarkung (20 Minuten) und zum Dessert gibt es die Mitteilung des Standorts für eine neue containerbasierte Flüchtlingsunterkunft (10 Minuten).
Die Bürger*innen dürfen Fragen stellen. Maximale Redezeit eine Minute. Darauf folgen ausführliche Kommentierungen von jeweils mindestens drei Podiumsmitgliedern.
Schritt 5: Die überraschende Eskalation
Spätestens beim dritten Tagesordnungspunkt geht das unwillige Gemurmel vieler Anwesender in lautstarke Missfallensäußerungen über.
Ermahnungen des Podiums provozieren werte Pöbeleien. Der Saal wird laut, die Tagesordnung gesprengt, die Versammlung vorzeitig abgebrochen.
Der Bürgermeister verlässt fluchtartig den Saal, der Rest des Podiums ist zu langsam und bekommt auf dem Weg zum Ausgang den einen oder anderen Schubser ab.
Schritt 6: Gehen Sie zurück auf Los
Für die Lokalpresse ist das Drama ein gefundenes Fressen. In Interviews bedauern die kommunalpolitischen Verantwortlichen einhellig die „überraschende Aggressivität“.
In der nächsten nichtöffentlichen Sitzung wird festgestellt, dass gut gemeinte Beteiligungsangebote in der Kommune keine Aussicht auf Erfolg haben und man sich sehr gut überlegen sollte, ob, wann und wie man wieder eine Bürgerversammlung anberaume.
Und damit zurück zu Schritt 1 …
Klingt etwas übertrieben? Ist es auch. Und wieder nicht. Denn exakt diese Eskalationsspirale – inklusive der realen Tagesordnung, hat vor einiger Zeit in einer hessischen Kommune genau so stattgefunden.
Sie ist nicht typisch für alle Kommunen in unserem Land. Aber wer auch nur minimale Erfahrungen in kommunaler Beteiligung hat, konnte die ein oder andere Praxis durchaus wiedererkennen.
Tatsächlich beschreibt diese Praxis weniger Unfähigkeit oder Unwilligkeit einzelner Akteure, sondern ein verbreitetes Dilemma:
Je länger minimale und wirkungsfreie Partizipation in einer Kommune (gleiches gilt übrigens auch für Firmen, Schulen oder sonstige Gruppen) gelebt wurde, desto größer ist das Risiko, dass es zu Eskalationen kommt, wenn es intensiver versucht wird. Warum?
Erstens, weil zumeist dann über Beteiligung nachgedacht wird, wenn ein Konfliktthema auf dem Tisch liegt – und es sich anders nicht bereinigen lässt. Also, wenn bereits Eskalationen drohen oder vorliegen.
Zweitens, weil die Akteure der beteiligenden Institution (Verwaltung, Politik, Vorstände, Schulleitung) keine praktische Erfahrung mit Beteiligung haben, unsicher sind und deshalb versuchen, den Prozess intensiv zu steuern.
Drittens, weil die Chance groß ist, dass die zu Beteiligenden (Bürger*innen, Eltern, Mitarbeitende, Schüler*innen) weit mehr Frustrationen mitbringen, als nur jene, die zu dem aufgerufenen Thema „passen“.
Viertens, weil die zu Beteiligenden ebenso wenig Erfahrungen im wertschätzenden Konfliktdiskurs haben, wie die Beteiliger – dafür aber eine Menge Wut im Bauch.
Beteiligung ist selten schmerzfrei. Findet sie zu spät statt, ist sie es praktisch nie. Und ist sie noch dazu keine echte, sondern eine Scheinbeteiligung (und dazu gehört zum Beispiel auch eine Bürgeranhörung ohne Mitwirkungsanspruch), dann ist das Chaos vorprogrammiert.
Was also ist die Lösung? Nicht beteiligen, weil es zu spät ist? Keinen Anlass zur Eskalation geben?
Klingt verlockend, produziert aber langfristig nur mehr und tieferen Verdruss, der sich dann in Konfliktverhalten jenseits von Diskursen manifestiert.
Tatsächlich zeigen im Grunde solche Eskalationen wie eingangs geschildert regelmäßig nur eines: dass es zu wenig Beteiligung gibt – nicht zu viel.
Die gute Nachricht lautet: Das ist reparabel: Beteiligung können beide Seiten lernen: Institutionen bzw. Verantwortliche und Beteiligte.
Es lernt sich schneller, leichter, angenehmer und nachhaltiger, wenn die Beteiligung ernsthaft ist, wenn sie gut moderiert ist, wenn sie belegbare Wirkung erzielt, wenn sie nicht gleich zu Anfang ein explosives Thema wählt.
Die wirklich gute Nachricht lautet aber: Tatsächlich gibt es genau so eine beidseitige Lernkurve auch, wenn diese Regeln nicht beachtet werden. Auch weniger gut gemachte Beteiligung führt zu einem Lernprozess, meist weniger angenehm, weniger gradlinig, weniger leicht – aber oft immer noch erstaunlich schnell.
Deshalb: Wer noch nicht angefangen hat, ernsthaft, langfristig und fair zu beteiligen, sollte es tun. Und wer Angst vor einer Spirale hat, wie wir sie eingangs gesehen haben, der sollte es erst recht tun. Und wer schon ähnlich negative Erfahrungen gesammelt hat, der sollte es wieder tun.
Und wer nicht weiß, wie er es tun soll?
Auch darauf gibt es seit Kurzem eine Antwort: Erfahrene Beteiligungsexpert*innen haben das Kompetenzzentrum Bürgerbeteiligung e.V. gegründet.
Eine Einrichtung, deren Konzept so in Europa bislang Pilotcharakter hat:
Kommunale (und andere Akteure) können sich hier kurzfristig und kostenlos beraten lassen – zu allen Fragen der Bürgerbeteiligung. Und das individuell und vertraulich von einer Expertin oder einem Experten ihrer Wahl – darunter auch Beratende mit langjähriger Erfahrung in kommunalen Verwaltungen, in Ministerien, in der Politik, in Wissenschaft, Forschung und Praxis.
Sie alle machen das ehrenamtlich und kostenlos. Auch ich habe gern ein paar Beratungsstunden beigesteuert. Deshalb beenden wir unseren Newsletter heute mit einem ungewöhnlichen Werbeblock:
- Nutzen Sie das Angebot (wenn Sie es brauchen).
- Unterstützen Sie das Projekt als Berater*in (wenn Sie Ihre Erfahrungen teilen wollen).
- Und vor allem: Werden Sie Mitglied des Trägervereins und gestalten Sie den weiteren Ausbau des Kompetenzzentrums mit.
Der nächste Newsletter wird dafür wieder ganz werbefrei. Und spannend. Es geht um den Umgang mit Populist*innen in Partizipationsprozessen. Und um Platon. Und Provokationen. Um ziemlich viele P’s also …
Bis dahin: Bleiben Sie gesund!