Ausgabe #149 | 10. November 2022
Digitale Wahlen
Bis zu 500.000 Gäste halten sich im Schnitt an einem normalen Tag in Berlin auf.
An jenem milden Herbsttag im vergangenen Jahr waren es sicher mehr.
Der beliebte Berlin-Marathon zieht weltweit Läufer*innen und Gäste an. Er ist flach, gut für Rekorde und für Einsteiger. Am Streckenrand jubeln die Menschen den Sportler*innen zu.
Doch manch einen Touristen aus dem Ausland mag eine Randerscheinung ziemlich irritiert haben: Lange Schlangen, Menschen auf Campingstühlen, Musik aus mobilen Lautsprechern, von Anwohnern mit Getränken und sogar Snacks versorgt.
Die Menschen waren teilweise schlecht gelaunt, oft aber auch in Party-Stimmung. Nur: Das alles deutlich abseits der Marathonstrecke.
Oft nicht einmal ansatzweise in Sichtweite.
Den meisten internationalen Gästen blieb dieses Verhalt schlicht unerklärlich. Wir Deutschen wissen:
Es war Wahl.
Bundestagswahl. Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Ein Volksentscheid zur Wohnungspolitik stand auch noch an.
Und es lief schief, was schieflaufen konnte: zu wenig Wahlkabinen, zu wenig Wahlzettel, teilweise sogar die Falschen – und spontane Nachlieferungen scheiterten gleich mehrfach daran, dass da eben noch dieser internationale Marathon war.
Die Berlinerinnen und Berliner, allerhand Kummer mit Ihrer Verwaltung gewöhnt, trugen es größtenteils mit Fassung – und machten zum Teil sogar Party auf der Straße.
Den Marathon gewann Guye Adola Idemo aus Äthopien. Wer die Wahl gewann, wird sich vermutlich zum Teil erst noch entscheiden.
Denn zumindest in 431 Wahlbezirken soll die Wahl nun wiederholt werden.
Im fernen Estland wird man dies mit amüsiertem Kopfschütteln registriert haben. Denn dort können die Wählerinnen und Wähler schon seit 2005 ihre Stimme online abgeben.
Bei der letzten Wahl nutze knapp ein Drittel der Wahlberechtigten diese Möglichkeit.
In Estland ist also schon lange akzeptiert, was bei uns noch vielen als schlichte Blasphemie gilt: Wahlen ohne Papier.
In Berlin hätte das möglicherweise das Chaos vom vergangenen Jahr verhindern können.
Und es gäbe noch viele weitere Vorteile:
Menschen, die, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen ihr Haus nicht verlassen können, müssten nicht mühsam Briefwahlunterlagen beantragen.
Bürger*innen im Ausland würde die Stimmabgabe so ebenfalls deutlich erleichtert.
Die chronisch schlechte Wahlbeteiligung insbesondere junger, digitalaffiner Menschen könnte sich verbessern.
Die Ergebnisse würden schneller und sicherer zur Verfügung stehen.
Logistische Probleme mit Wahlzetteln, Urnen und Kabinen würden entfallen.
Es würden erheblich weniger Wahlhelfer*innen benötigt. Diese zu finden ist heute in vielen Kommunen eine große Herausforderung.
Dazu käme nach Meinung vieler Experten: Digitale Wahlen sind potentiell fälschungssicherer als die analoge Zettelwirtschaft.
In Estland ist das digitale Wahlverfahren auch deshalb so akzeptiert, weil es als einfach und sicher gilt, wie zum Beispiel der estische Experte Tõnu Tammer berichtet:
„Sie gehen auf die Wahlwebseite und laden das Programm zum Abstimmen herunter. Beim Öffnen fordert das Programm Sie auf, sich mit Ihrem Ausweis zu identifizieren. Dann erscheint die Liste mit den Kandidaten, aus der Sie auswählen. Anschließend identifizieren Sie sich noch einmal mit einer PIN-Nummer und bestätigen Ihre Wahl – dann wird sie an die elektronische Wahlurne abgeschickt. Anschließend haben Sie über eine App per QR-Code die Möglichkeit zu prüfen, ob Ihre Stimme auch dort angekommen ist.über eine App per QR-Code die Möglichkeit zu prüfen, ob Ihre Stimme auch dort angekommen ist.“
Um die Stimme zu entschlüsseln, braucht man eine Reihe physischer Schlüssel, über die nur verschiedene Mitglieder der Wahlkommission verfügen. Einige dieser Schlüssel liegen bei externen Wahlbeobachtern – ein weiterer Sicherheitsfaktor.
Hinzu kommt in Estland die Freiwilligkeit: Niemand wird gezwungen, digital zu wählen. Wer dem System misstraut, kann weitere analog ins Wahllokal gehen.
Zudem ist das Programm zur Stimmabgabe in Estland offen. Alle können sich den Quellcode ansehen und prüfen, was er macht und was nicht.
Wählen wir also in Zukunft alle digital?
Sicher ist das nicht. Denn es gibt zwei Hauptgründe, die gegen eine rasche vollständige Digitalisierung sprechen:
Auch wenn Expert*innen digitale Wahlen für sehr sicher halten, vor allem im Vergleich mit Briefwahlen, so bleibt doch immer ein Restrisiko.
Und während einzelne Briefwahlunterlagen, die von nicht autorisierten Personen ausgefüllt werden, kaum das ganze Wahlergebnis manipulieren können, so können bei Sicherheitslücken in der digitalen Infrastruktur schnell große Stimmenzahlen verfälscht werden.
Dazu kommt: zumindest theoretisch können die Stimmabgaben einzelnen Wähler*innen zugeordnet werden. Eine Gefahr, die in analogen Wahlprozessen recht leicht zu unterbinden ist.
Diese technischen Risiken führen unmittelbar zum zweiten Grund für die zögerliche Entwicklung: Viele Menschen haben Angst vor Manipulationen.
Und diese Ängste sind um so größer, je weniger der Prozess verstanden und durchschaut werden kann.
Nicht ohne Grund wählt auch nach fast zwei Jahrzehnten die deutliche Mehrheit der Esten nach wie vor lieber analog.
Tõnu Tammer sagt dazu:
„Die Sicherheit eines technischen Systems zu verbessern, ist einfach. Das Denken der Wähler in dieser Hinsicht zu wandeln, ist viel schwieriger.“
Wann wir in Deutschland digitale Wahlen erleben werden?
Wir wissen es nicht. Ob irgendwann die analogen Wahlprozesse vollständig ersetzt werden? Vermutlich schon. Aber das wird möglicherweise noch ein halbes Jahrhundert dauern.
Letztlich gibt es auch starke Stimmen, die aus einem ganz anderen Grund an analogen Wahlen festhalten wollen:
Eben weil sie mühsam sind, den Wähler*innen mehr abfordern, mehr Engagierte brauchen, mehr Aufwand produzieren.
Denn Wahlen sind in einer Demokratie nun einmal die Schlüsselhandlung.
Sie finden ohnehin selten genug statt. Da dürfte, könnte, ja sollte man sie durchaus als „Demokratisches Hochamt“ praktizieren, um ihre Bedeutung zu unterstreichen und erlebbar zu machen.
Das ist jetzt kein praktisches Argument. Aber ein durchaus diskussionswürdiges.
Überzeugend auch für Sie?
Sind Sie Team digital oder Team analog? Und aus welchem Grund?
Schreiben Sie mir, oder kommentieren Sie hier – Ihre Meinung interessiert mich sehr …
Das BVerfG hat 2009 die Hürden sehr hoch gelegt:
„Der Zweite Senat hat entschieden, dass der Einsatz elektronischer Wahlgeräte voraussetzt, dass die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl (Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen.“
Urteil vom 03. März 2009, Az. 2 BvC 3/07. Wenn ich das ernst nehme, insbes. die Formulierung „ohne besondere Sachkenntnis“, wird eine Onlinewahl verdammt schwierig.
Ich bin ganz klar Team ANALOG! Und ich habe auch schon mehrfach in meiner Stadt als Wahlhelferin geholfen.
Warum analog? Viele Menschen – auch ich – haben Angst vor Hackern. Dies ist auch berechtigt, denn wir wissen, dass es schon einige Hacks gegeben hat – wir haben ja auch Angst, dass kritische Infrastruktur gehackt werden kann. Warum dann eigentlich nicht auch Wahlen? Die Beeinflussungen und Fälschungen können von überall kommen (auch aus dem Ausland).
Junge Leute sind wohl schon mit Smartphone aufgewachsen. kann man Ihnen heute noch vermitteln, dass Wahlen das „Demokratisches Hochamt“ sind? Was macht hier die Schule?