Ausgabe #15 | 9. April 2020
Das Ende der analogen Demokratie
„Bürgerbeteiligung zum Werftquartier in Bremerhaven wird abgesagt“, „Die Öffentliche Sitzung des Beirats Bürgerbeteiligung in Wuppertal fällt aus“, „Abgesagt: Werkstätten zur Stadtentwicklung in Potsdam“.
Dies sind nur drei von über 400 Schlagzeilen, die aktuell eine oberflächliche Google-Suche auswirft. Die Corona-Pandemie hat Folgen. Nicht nur für die Wirtschaft, sondern eben auch für die Demokratie.
Da ist zum einen die Bürgerbeteiligung. Sie setzt systemisch auf Dialog, und der findet eben in der Regel in Präsenzveranstaltungen statt. Oder eben nicht statt, so wie zurzeit. Die Regeln des social distancing (Welch ein fürchterlicher Begriff), erlauben solche Veranstaltungen nicht mehr.
Die Absagen sind also konsequent.
Hinzu kommt noch ein weiterer Faktor: Bürgerbeteiligung wird weit überwiegend von kommunalen Verwaltungen organisiert. Die aber sind zurzeit nicht nur krankheitsbedingt personell ausgedünnt, müssen selbst ihre Arbeit ungewohnt umorganisieren, sondern haben in der Pandemie-Bekämpfung hundert andere, wichtigere, auf jeden Fall aber drängendere Probleme.
Anders als in der Wirtschaft können in der Kommune auch nicht so einfach und schnell Gelder umgeleitet und aus dem Stand Online-Beteiligungsangebote geschaffen werden, wo sie bisher noch nicht existierten.
Das Berlin Institut für Partizipation führt aktuell eine Umfrage durch: Befragt werden Politik/Verwaltung, Dienstleister und beteiligte Bürger*innen danach, welche Einflüsse der Pandemie auf die Bürgerbeteiligung sie wahrnehmen.
Die Ergebnisse werden in einer Kompaktstudie aufbereitet und der Politik zur Verfügung gestellt. Möchten Sie an der Umfrage teilnehmen? Das können Sie hier: (Link abgelaufen).
Ohne den Ergebnissen der Studie vorgreifen zu wollen: Die Corona-Pandemie bedeutet sicher nicht das Ende der Bürgerbeteiligung, auch nicht das Ende der analogen Beteiligung. Aber sie wird die Strukturen möglicherweise nachhaltig verändern.
Das werden wir nach der Krise aufarbeiten müssen, denn eines ist gewiss: Die nächste Krise kommt bestimmt. Und auf Dauer wäre es fatal, wenn unsere Antwort auf Krisen aller Art jedes Mal eine gewaltige Reduktion gesellschaftlicher und politischer Teilhabe wäre. Ich denke, die Demokratie kann das besser.
Und da sind wir bei der zweiten Facette des Themas. Was bedeuten die aktuellen Erfahrungen nicht für die klassische Bürgerbeteiligung, sondern für unsere demokratischen Strukturen insgesamt?
Die Kommunalwahlen in Bayern sind Mitte März gerade noch so an der Pandemie vorbeigeschrammt. Ob die dort hohe Zahl an Erkrankungen und Todesfällen etwas damit zu tun haben, ist blanke Spekulation. Die zweite Runde der OB-Wahlen Ende März fand dann bereits erstmals als reine Briefwahl statt. Schon das ist verfassungsrechtlich grenzwertig, wirft aber bereits ein erstes Schlaglicht auf die Problematik unseres Wahlsystems, das im Grunde aus einer vordigitalen Zeit stammt.
Die nächsten Wahlen werden am 13. September die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen sein. Nun kann man optimistisch hoffen, dass wir die Corona-Krise bis dahin weitgehend durchgestanden haben. Sicher ist das nicht. Und vor allem ist der Wahltag nicht das Kernproblem.
Zu einer Wahl gehören demokratische Listen und Kandidat*innenaufstellungen. Laut Wahlrecht geht das aber nur in Präsenzveranstaltungen, lange vor der Wahl. In Nordrhein-Westfalen müssen die Wahlvorschläge bis zum 19. Juli eingereicht werden. Und auch diese Versammlungen haben Fristen für die Einladung.
Wer jemals in einer Partei aktiv war, weiß außerdem: Solchen Versammlungen gehen unzählige Gremiensitzungen und Gespräche voraus. Gerade in der Kommunalpolitik ist die Kandidat*innensuche eine Herkulesaufgabe. Hinzu kommt der Wahlkampf, in dem die Parteien bislang vor allem analog arbeiten und auch nur so bestimmte Wähler*innengruppen erreichen.
Wir sehen: Unser Verständnis von Wahlen basiert auf 100 Jahre alten Vorstellungen aus der vordigitalen Zeit.
Gleichzeitig leben wir in einer Transformation der gesamten Gesellschaft ins Digitale. Die Wirtschaft ist der Treiber, aber auch unsere jungen Menschen haben Formen digitaler Interaktion entwickelt, die sie jetzt in Zeiten von Corona weiter perfektionieren. Erst vorgestern haben drei meiner eigenen Kinder in unterschiedlichen Teilen Deutschlands gemeinsam mit Freunden einen fünfstündigen Spieleabend via Skype organisiert.
Die Digitalisierung der Welt kann man irritierend finden, man kann sie sogar für gefährlich halten. Eines aber kann man nicht: sie ignorieren.
Wir wären schlecht beraten, sollten wir dies in Bezug auf die Demokratie versuchen. Unternehmen, die die digitale Transformation ignorieren, werden scheitern. Für die Demokratie ist scheitern keine Option.
Sollen wir also davon ausgehen, dass unsere demokratischen Prozesse weiter analog bleiben? Das wäre unrealistisch.
Doch für die digitale Transformation der Demokratie fehlt uns in Deutschland bislang alles: Die Technik, die Kultur und der rechtliche Rahmen.
Sollte die Corona-Pandemie hier einen deutlichen Impuls liefern? Das wäre möglich. Darüber sollten wir sprechen. Nach Corona, gerne auch in Formaten der Bürgerbeteiligung. Denn das ist ein Thema für uns alle.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer