#159 | Vier Straßen

Aus Problemvierteln können solidarische Nachbarschaften entstehen. Das ist nicht einfach, aber möglich.

Ausgabe #159 | 19. Januar 2023

Vier Straßen

Nur vier Straßen waren übrig geblieben. Und auch die hatten keine Perspektive.

Die Geschichte des Niedergangs war lang. Und typisch für die Geschichte der englischen Industrieregion um Liverpool. Er begann bereits in den 60er Jahren. Immer mehr der kleinen viktorianischen Reihenhäuser der Siedlung Granby im Liverpooler Viertel Toxteth wurden zu Spekulationsobjekten.

Minimale Investitionen sollten maximale Mieteinnahmen für die Investor*innen generieren. Das Viertel wurde immer ärmer. Und immer multikultureller.

Unerträgliche Lebens- und Wohnsituationen führten schließlich Anfang der 80er Jahre zu den Toxteth Riots. Rassistische Polizeiübergriffe provozierten Aufstände. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Schlachten zwischen der überwiegend schwarzen Community und den Ordnungskräften.

Hunderte von Menschen auf beiden Seiten wurden verletzt, rund 70 Häuser gingen in Flammen auf.

Danach galt Granby endgültig als verloren. Wer es sich leisten konnte, zog weg, die pittoresken Häuser verfielen. Strom- und Wasserleitungen verrotteten. Spekulant*innen rissen ganze Straßenzüge ab.

2011 existierten nur noch die vier südlichsten Straßen des alten Granby. Die Häuser standen, waren aber kaum noch bewohnbar.

Auch sie sollten weichen.

Einige Bewohner*innen wehrten sich gegen den Abriss, hatten aber keine wirkliche Chance. Eher als Protestaktion, denn als ernsthafte Sanierungsmaßnahme hübschten sie ihr Viertel auf. Sie strichen ihre Türen quietschbunt, pflanzten Blumen, improvisierten Treffpunkte im öffentlichen Raum.

Das sprach junge Künstler*innen an, sie stiegen ein, veranstalteten Happenings, sogar einen viel beachteten Markt. Junge Architekt*innen lernten das Viertel kennen, wollten es retten, gewannen Kommunalpolitiker*innen, Förderer aus der Liverpooler Startup-
Szene.

Eine Initiative entstand, die sich für die Rettung der Four Streets einsetzte. Alle Beteiligten setzten dabei von Anfang an darauf, das Viertel nicht zu gentrifizieren, sondern das Leben dort für die Bewohner*innen zu verbessern.

Das führte zur Gründung eines gemeinnützigen Community Land Trusts, der das Viertel vor Spekulant*innen schützte und viele kleine und große Projekte ermöglichte.

Dabei ging es nie um Sanierung über die Köpfe der Bewohner*innen hinweg, sondern als gemeinsame, partizipative Projekte. Neben der reinen Wohnraumsanierung stand stets auch die Revitalisierung des Stadtteils und die Stärkung des Zusammenhalts im Vordergrund.

Heute sind die Granby Four Streets ein international beachteter attraktiver Stadtteil mit lokalen Arbeitsplätzen und einer starken Community. 2015 erhielt das beteiligte Londoner Architektenkollektiv Assemble sogar den Turner-Preis, den wichtigsten Kunstpreis Großbritanniens.

Von der ersten Initiative bis zur heutigen Gestaltung der Community war das Projekt partizipativ orientiert – auf eine ungewöhnliche Weise.

Denn die starren Rollen (hier die Beteiligenden, dort die Beteiligten) verschwammen oft, ja wechselten manchmal. Die jungen Londoner Architekt*innen wurden beteiligt – und beteiligten selbst.

Es gab Formate und Events, die die Einwohner*innen komplett organisierten, ebenso wie Zukunftswerkstätten in der Regie von Architekt*innen und Künstler*innen, Workshops der Verwaltung und Dutzende von Aktivitäten, bei denen irgendwie alle irgendwie mitmachten.

Nicht alle verliefen harmonisch, wenige waren effizient. Es gab Streit, Konflikte, Debatten und auch mal knallende (bunte) Türen.

Am Ende war das Projekt erfolgreich und wird heute als ein Musterbeispiel für gelingende Partizipation so genannter „beteiligungsferner Gruppen“ betrachtet.

Das ist es auch.

Aber es sollte nicht als Kopiervorlage (miss-)verstanden werden, sondern besser als strukturelles Beispiel für jene Dinge, die es braucht, um Breite Beteiligung gelingen zu lassen.

Die Granby Four Streets zeigen auch, wie Breite Beteiligung nicht funktioniert.

Das passiert, wenn etablierte Akteur*innen ein Beteiligungsthema wählen, den Wirkungsrahmen definieren, die zu Beteiligenden auswählen und dann – für die Betroffenen wie aus dem Nichts – auftauchen, um sie in einen Prozess zu verstricken, dessen Thema und Spielregeln andere für sie gesetzt haben.

Granby zeigt uns, dass Breite Beteiligung anders funktionieren kann, möglicherweise auch muss.

Das Thema der Beteiligung muss essentiell mit der Lebenswirklichkeit der Menschen verknüpft sein. Menschen in prekären Situationen kämpfen mit existenziellen Herausforderungen. Geht es um diese Herausforderungen, ist der Beteiligungsimpuls stark. Und er muss stark sein, damit die vielen Hürden und Herausforderungen bewältig werden.

Der Prozess muss von Anfang an Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. In Granby waren es zunächst nur ein paar bunte Türen und Blumen, die zeigten: Wir können selbst etwas tun. Es folgte der gemeinsam organisierte Markt mit hohem Zuspruch und öffentlicher Aufmerksamkeit – und die Sache kam ins Rollen.

Und letztlich zeigte Granby, dass die klassische Rollenteilung zwischen Beteiligenden und Beteiligten aufgebrochen werden kann. Die Bewohner*innen waren keine Objekte eines klassischen Beteiligungsprozesses. Sie gestalteten den Prozess entscheidend mit und teilweise selbst. Das schaffte Zutrauen in die eigene Wirksamkeit – und Vertrauen in die beteiligten Partner*innen.

Genau diese drei Dinge können heutige Beteiligungsprozesse lernen.

Breit kann Beteiligung dann werden, wenn sie nicht für die Betroffenen organisiert wird, sondern mit den Betroffenen. Solche Prozesse laufen allerdings nicht wie geplant. Das dürfen sie gar nicht. Es geht weniger darum, Formate auszuwählen, sondern Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Das funktioniert nicht immer wie in Granby, wo letztlich eine lange Leidensgeschichte und ein paar Zufälligkeiten zusammenkamen. Und deshalb geht es auch nicht darum, viele kleine Granbys zu erzwingen.

Auch gute Breite Beteiligung kann von Verwaltung und anderen Akteur*innen initiiert werden, sie hat aber dann besonders gute Chancen auf Erfolg, wenn die Lehren aus Granby berücksichtigt werden.

Existenzielle Themen, frühe Selbstwirksamkeit und ein Prozess, der von den Beteiligten maßgeblich gestaltet wird – das sind die drei Zutaten für Gute Beteiligung, die uns die vier Straßen von Granby gegeben haben.

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Dieter Egner
19. Januar 2023 15:49

Wieder ein kluger Hinweis! Sehr gut!

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