#16 | Unsere Daten und die Demokratie

Datenschutz ist ein hohes Gut. Demokratie auch. Doch was geschieht, wenn beides kollidiert?

Ausgabe #16 | 16. April 2020

Unsere Daten und die Demokratie

Welche Steigerungsrate übertrifft aktuell die der Corona-Infektionen? Die der Corona-Newsletter. Tag für Tag purzeln mehr Corona-Newsletter in unser Postfach, die meisten davon ungefragt.

Und da sind wir auch schon beim Thema. Nein, es soll – das ist die gute Nachricht – heute mal nicht um Corona gehen. Sondern um Datenschutz. Konkret: um Demokratie und Datenschutz.

Warum das wichtig ist? Ganz einfach: Weil wir den Zusammenhang bislang nicht wichtig genug genommen haben. Betrachten wir die Datenschutz-Debatte der vergangenen Jahre, kumuliert in der sogenannten Datenschutzgrundverordnung, dann stellen wir ein bemerkenswertes Muster fest:

Die Digitalisierung wird auf gesellschaftlicher Ebene primär als „Störfaktor“ gesehen, den es einzugehen gilt.

In der Wirtschaft werden die Potentiale der Digitalisierung (wie historisch häufig bei Produktivkraftrevolutionen) tendenziell überbewertet, die Vorteile schöngeredet und die Gefahren bagatellisiert.

In der Gesellschaft, gerade auch im politischen Raum, ist die Betrachtungsweise tendenziell umgekehrt: Demokratische Prozesse und politische Alltagskultur folgt noch immer analogen Regeln und Denkmustern, seit Beginn der Digitalisierung faktisch unverändert.

Bürger*innen und deren Daten gilt es maximal von der Digitalisierung fernzuhalten.

Dafür gibt es gute Gründe. Russische Trollattacken, der Skandal um Cambridge Analytica, obskure Verschwörungsplattformen fallen uns spontan ein. All diesen Beispielen ist eines gemein: Stets geht es darum, die Bürger*innen manipulativ zu entmündigen.

Das ist zweifellos verwerflich. Neu ist es nicht. Schon im alten Rom wurden Wahlen und Wähler*innen von speziellen Dienstleitern manipuliert. Das soll die Vorgänge nicht bagatellisieren. Es geht um die Denkweise, die wir verinnerlicht haben: Die Digitalisierung als Bedrohung der (nach wie vor analogen) Demokratie.

Die Aneignung der digitalen Potentiale durch die Demokratie wäre das genaue Gegenteil davon. Doch sie fand bislang nicht statt, nicht einmal als theoretische Option. Einige Beispiele belegen dies:

Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen drängt nicht nur deshalb auf eine rasche Rückkehr zur Normalität, weil er sich als Kanzlerkandidat positionieren will, sondern auch, weil die Kommunalwahlen im Herbst auf der Kippe stehen. Die Wahllisten können nur in Präsenzveranstaltungen aufgestellt werden, die aber sind untersagt.

Insbesondere Kommunalwahlkämpfe finden in Deutschland nach wie vor primär an drei Orten statt: In Sälen, auf der Straße und an der Haustüre. Alle drei Optionen sind in Corona-Zeiten undenkbar. Hinzu kommt: Alternative Wahlvorschläge von nicht im jeweiligen Gremium vertretenen Parteien und Gruppen müssen handschriftlich von nicht wenigen Unterstützer*innen unterzeichnet sein. Wie das in der aktuellen Lage funktionieren soll, weiß niemand. Der Geist, der aus diesen Regeln spricht: Demokratie in Deutschland ist analog. Digitalisierung ist bestenfalls Bedrohung.

Auch intern schieben unsere Parteien eine analoge Bugwelle vor sich her. Parteitage sind essentiell notwendig, aber nicht möglich. Kaum einer der über 600.000 deutschen Vereine kann gerade rechtsgültige Beschlüsse fassen. Denn digitale Vorstandssitzungen sind kaum erprobt und auch nicht möglich, wenn sie nicht explizit in der Satzung stehen. Nach wie vor sind digitale Entscheidungsstrukturen in Vereinssatzungen ein regelmäßiger Konfliktanlass mit den Hütern der Vereinsregister.

Auch die politische Meinungsbildung leidet unter der digitalen Drohkulisse: Parteien dürfen vor den Wahlen die Straßen mit ihren Plakaten zupflastern, sie dürfen ungefragt Wahlwerbung in jeden Briefkasten stopfen, ja sogar die Listen der Erstwähler*innen für die Brief(!)werbung von den Kommunen anfordern.

Ungefragt E-Mails verschicken dürfen sie nicht.

Tatsächlich reagieren die meisten Menschen auf politische Wahlwerbung im E-Mail-Postfach aggressiver als auf Viagra und Wettofferten.

Ja, es ist gut, dass wir unsere Daten schützen. Ja, wir alle wollen nicht manipuliert werden. Ja, in der digitalen Welt gelten andere, uns oft zuwiderlaufende, moralisch grenzwertige Regeln.

Aber: Die Digitalisierung findet statt. Die Digitalisierung braucht die Demokratie nicht. Aber kann die Demokratie es sich noch länger leisten, die Digitalisierung nur als Problem zu betrachten?

So kommen wir am Ende dieses Newsletters doch noch einmal auf Corona zurück: Die Demokratie leidet aktuell unter der Pandemie. Das hat viele objektive Gründe. Doch ein Teil dieser Gründe ist auch hausgemacht.

Wahlrecht und politische Kultur in Deutschland befinden sich mental noch im vordigitalen Zeitalter. Doch das ist vorbei. Es ist Geschichte.

Demokratie ist Zukunft. Die aber ist digital.

Herzlichst, Ihr Jörg Sommer

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